Der Stuttgarter Stadtteil Giebel galt früher als Brennpunkt. Die Läden in der grauen, in den 50er Jahren hochgezogenen Wohnsiedlung für Nachkriegs-Flüchtlinge blieben leer, das Zentrum lieblos. Doch in den letzten Jahren hat sich etwas getan.

Stuttgart-Weilimdorf - Früher, vor zwanzig oder dreißig Jahren, habe es Taxifahrer gegeben, die sich weigerten, nachts bis nach Giebel zu fahren. „Wer den Giebel nicht kannte, hat ihn mit dem Hallschlag verglichen“, sagt Waltraud Illner – und das Viertel als soziales Brennpunktviertel abgestempelt. „Hier waren eben nur Sozialwohnungen und viele Vertriebene“, sagt sie, „das hatte sofort ein Gschmäckle“.

 

Waltraud Illner, 64 Jahre alt, sitzt vor dem Eiscafé La Crema, vor sich auf dem Tisch eine Tasse Cappuccino, und beobachtet das Geschehen auf dem Ernst-Reuter-Platz, dem Zentrum des Stuttgarter Stadtteils. Es ist ein guter Ort, findet Waltraud Illner, denn von hier aus habe man all das im Blick, was sich über die Zeit verändere: Die kleinen Läden in den Flachdachgebäuden rund um den Platz, die immer mal wieder den Besitzer wechseln. Die Leute, die hier in Giebel unterwegs sind. Die Wohnblöcke ringsum, die einen neuen Anstrich verpasst bekommen haben. Oder der große, gepflasterte Platz selbst, der erst vor wenigen Jahren völlig neu gestaltet wurde.

Waltraud Illner sieht jede Veränderung, sie lebt seit 62 Jahren in Giebel. Ein Urgestein also, sagt sie über sich selbst, denn ihre Eltern waren damals, 1954, unter den ersten, die in die neu errichteten Wohnbauten zogen. Wie so viele der Menschen, die in der Nachkriegszeit in die „Landsiedlung Bergheim“ und die „Wohnstadt Giebel“ flüchteten, kamen sie aus dem Sudetenland, aus dem Böhmerwald. Heimatvertriebene hätten in den 60er Jahren 70 Prozent der rund 6000 Einwohner von Giebel ausgemacht, sagt Illner. „Klein-Chicago“ wurde der Stadtteil deshalb auch genannt, ein Zusammentreffen von Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen.

Gelbgestrichene Wohnblöcke, eine graue, flache Ladenzeile, dann wieder Häuserreihen

Wer mit der Stadtbahn Nummer 13 bis zur Endstation „Giebel“ fährt, sieht die Spuren der schnell hochgezogenen Trabantenstadt aus dem Zugfenster noch heute. Dort, wo die Bahn von der Weilimdorfer Solitudestraße aus eine Rechtskurve Richtung Gerlingen nimmt, reihen sich rechts der Gleise lange, gelbgestrichene Wohnblöcke. Dazwischen Grünstreifen, dann eine graue, flache Ladenzeile, und wieder lange Häuserreihen. Lurchweg und Krötenweg heißen hier die Straßen. Links der Gleise Krokodilweg, Schlangenweg – hier sind die Wohnblöcke nahe der Stadtbahn-Gleise noch höher und die Bauten grauer.

Illner hat es nie weggezogen aus dem Giebel. „Wir hatten hier ja immer alles“. Alles heißt für sie: Der Spielplatz im Zentrum, der kleine Milchladen, zu dem die Kinder mit ihren Blechkannen liefen, der Straßenbahnanschluss, der Reuter-Platz mit der schlammigen Wasserecke, an der man spielen konnte, der Eisenwarenladen, die Sparkasse mit dem Eisgeschäft im Hinterhof. Später, in den 50ern und 60ern: Die Kirche, die Schule, das Jugendhaus. Trabantenstadt, nennt Illner das, eine Stadt in der Stadt.

Irgendwann aber wurde der Stadtteil zu einem, in dem vor allem Leute über 50 wohnten. Immer mehr Läden standen leer, manche blieben es. Die Schulen waren nicht mehr so gut besucht, die Beleuchtung war alt und schummrig, der Ernst-Reuter-Platz eine leblose, graue Fläche, die schnell und billig hochgezogenen Wohnblöcke ringsum immer weniger attraktiv. Der Ort kam in die Schlagzeilen, wegen der Jugendbanden, der schlechten Sicherheitslage, der Zahl der Extremwähler hier. Die 90er Jahre, sagt Illner, das war auch die Zeit, in der hier nicht einmal mehr Taxis hinfahren wollten.

Der Giebel wurde in das Förderprogramm „Soziale Stadt“ aufgenommen

Kurz nach der Jahrtausendwende hat die Stadt Stuttgart die Probleme erkannt und den Giebel in ihr Städtebauförderprogramm aufgenommen. 5,8 Millionen Euro steckten Bund, Land und Stadt ab 2007 in die Entwicklung des Stadtteils. Projekt „Soziale Stadt“ wurde das genannt, eine Förderung für „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf“. In der Beschreibung zum Programm hieß es damals:

„Der Stadtteil Giebel im Südwesten des Stadtbezirks Weilimdorf ist eine typische Nachkriegssiedlung. Prägend ist die in den 1950er Jahren übliche Zeilen- und Reihenhausbebauung. Das Wohnungsangebot entspricht nicht mehr den heutigen Ansprüchen, das Wohnumfeld und der öffentliche Aufenthaltsraum und es fehlen Kontakt- und Begegnungsmöglichkeiten.“

Seitdem habe sich hier, im Giebel, viel getan, sagt Waltraud Illner. Der Bürgerverein, der sich 2007 gründete und die Leute an einen Tisch brachte. Die jährliche Putzaktion, bei der man gemeinsam den Ortskern sauber mache. Das Kinder- und Bürgerfest, der Weinumtrunk, das Giebelhaus mit Räumen für Jugendliche und dem täglichen Bürgercafé. Das offene Bücherregal auf dem Ernst-Reuter-Platz. Neue Spielplätze, Tischtennisplatten, Hundetoiletten, Blumenbeete. Und dann all die Sanierungen und Modernisierungen an Plätzen, Straßen, Häusern, die in den vergangenen Jahren gemacht wurden. Das Image des Giebel, sagt Illner, sei heute jedenfalls ein ganz anderes als noch vor ein paar Jahren.

Es gibt jetzt wieder mehr junge Leute im Stadtteil, mehr Familien

In diesem Frühjahr wurde das Projekt „Soziale Stadt“ im Giebel offiziell abgeschlossen. Heute kümmert sich Claudia Jablonowski darum, dass die angestoßenen Projekte weiterlaufen. Sie ist Leiterin des Stadtteil- und Familienzentrums im Giebelhaus, das im vergangenen Jahr eingeweiht wurde und im Stadtteil heute als eine Art soziales Zentrum fungieren soll. „Das wichtigste ist die Vernetzung der Menschen, die hier leben“, sagt Claudia Jablonowski, denn das sei in den letzten Jahren viel besser geworden. Ihren ersten Job hatte Jablonowski ab 1988 im Jugendhaus des Giebel. Seither habe sich der Stadtteil enorm verändert und entwickelt, sagt sie. Dazu habe es das Projekt „Soziale Stadt“ auf jeden Fall gebraucht. „Nicht nur die offensichtlichen, baulichen Veränderungen. Die Menschen hier sind wieder näher zusammengewachsen.“

Jablonowski leitet jetzt auch das Bürgergremium im Ort und koordiniert die verschiedenen Arbeitsgruppen, die es inzwischen gibt. Keine einfache Sache, das weiß sie, auf der einen Seite sind die älteren Bewohner des Giebel, die sich im Bürgerverein gefunden haben, und auf der anderen gilt es, die Zugezogenen zu integrieren, auch die Migranten zu erreichen. „Es bleibt eine Herausforderung, die Leute weiter regelmäßig an einen Tisch zu holen – und neue Leute dazuzugewinnen“, sagt sie.

Auf dem Ernst-Reuter-Platz fahren ein paar Jungs Skateboard, zwei Frauen stehen mit Kinderwagen unter den Bäumen vor dem Eiscafé und dem Dönerladen, der auch Pizza verkauft. Ein Drogeriemarkt fehle jetzt noch, sagt Waltraud Illner, und ja, ein paar der Läden stünden noch immer leer, zum Beispiel der frühere Blumenladen. Auch, dass die Engelberg-Grundschule mit in die Rappachschule kommt, finden nicht alle hier gut. Aber es tue sich was, sagt Walltraud Illner. Am Rand des großen, hell gepflasterten Platzes sitzen ein paar ältere Jugendliche auf der Steintreppe und hören Musik. Es gebe jetzt wieder mehr junge Leute hier, mehr Familien, sagt Waltraud Illner. „Es ist noch nicht ganz wie früher, aber man sieht einen Generationswechsel.“

Hier geht es zum Serienüberblick: Endstationen – Eine Reise zum Ende der Schienen