Banken vor der Pleite, Staaten vor dem Bankrott: Die Krise, die 2007 begann, hat die EU und das Leben der Menschen verändert. Die Folgen sind noch immer zu spüren. In unserer Serie ziehen wir Bilanz. Zum Start: eine Bestandsaufnahme.

Korrespondenten: Markus Grabitz (mgr)

Brüssel - Europa den Puls fühlen. Wie ist die Lage im mit 500 Millionen Verbrauchern größten Binnenmarkt der Erde? Wie stehen die Menschen in den 28 Mitgliedstaaten zum erklärten Ziel der „ever closer union“ – was auf Deutsch so viel heißt wie: immer enger zusammenwachsende Gemeinschaft? Eine Antwort auf diese Fragen findet man auf den Devisenmärkten. Geld ist die volatilste Einheit an den Finanzmärkten, noch schneller als bei Aktien und Anleihen preisen Devisenhändler geänderte politische und wirtschaftliche Faktoren ein. Das Urteil am Devisenmarkt ist eindeutig. Die EU hat einen guten Lauf. Der Euro ist im Verhältnis zum Dollar auf seinem 14-Monatshoch. Allein in diesem Jahr hat der US-Dollar im Verhältnis zum Euro ein Zehntel an Wert eingebüßt. Auch gegenüber dem Schweizer Franken, wegen der Stabilität von Anlegern als sicherer finanzieller Hafen geschätzt, hat die Gemeinschaftswährung deutlich an Wert gewonnen.

 

Ein ähnliches Bild zeichnet das Euro-Barometer. In regelmäßigen Abständen lässt die EU-Kommission in Brüssel repräsentative Meinungsumfragen zur EU vornehmen. Für die letzte Erhebung sind 28 000 EU-Bürger über 15 aus allen Mitgliedstaaten von Angesicht zu Angesicht befragt worden. Das Fazit: Die Europäische Union wird wieder beliebter. EU-weit schreiben Anfang Juni 40 Prozent der Befragten der EU ein „komplett positives“ Bild zu, „komplett negativ“ finden dagegen nur 21 Prozent die Gemeinschaft. Das war Anfang 2016, vor nur anderthalb Jahren, dramatisch anders: Da näherten sich die beiden Kurven gefährlich an. „Komplett positiv“ hatte einen Wert von 34, „komplett negativ“ von 27 Prozent.

42 Prozent der befragten vertrauen der Institution EU

Nun genießt die EU als Ganzes mehr Vertrauen als die nationalen Regierungen und die nationalen Parlamente. 42 Prozent vertrauen der Institution EU, 37 Prozent ihrer jeweiligen nationalen Regierung und 36 Prozent den nationalen Parlamenten. Soweit die Totale. Wenn die Kamera näher an die Menschen heranfährt, ergeben sich überraschende EU-Loyalitäten auf Ebene der Nationalstaaten: In 18 von 28 Nationalstaaten überwiegt das Vertrauen in die EU gegenüber dem Misstrauen. An der Spitze ist Malta mit 66 Prozent, Litauen und die Niederlande (64), Luxemburg und Finnland (je 60), Bulgarien und Rumänien (je 59). Polen mit seiner EU-feindlichen PIS-Regierung kommt mit 57 Prozent auf den gleichen Wert wie Deutschland. Am niedrigsten ist das Vertrauen der Menschen in die Brüsseler Institutionen im Sorgenkind der Währungsunion, Griechenland, mit 27 Prozent, Slowenien (32), Tschechien und Spanien ( je 35). Die Alten halten weniger von der EU als die Jüngeren: EU-weit misstrauen 51 Prozent der Menschen über 55 der EU, die Mehrheit der 15- bis 24-Jährigen vertraut Europa. Bildung und sozialer Stand befördern gemeinhin die Sympathie für die EU.

Sowohl an den Finanzmärkten wie auch im Meinungsbild der Menschen ist also die Stimmung zugunsten der EU umgeschwenkt. Am miserabelsten stand es im öffentlichen Ansehen um Europa im Sommer 2015. Bei gleich zwei Großkrisen zeigte sich Europa zerstritten und unfähig, Lösungen zu präsentieren. Gemeint sind vor allem die Flüchtlingskrise, als über die Ägäis Millionen von Migranten in die EU kamen. Nationale Egoismen und Sonderwege führten dazu, dass Europa nicht handlungsfähig war. Bei den Bürgern entstand der Eindruck von Chaos und Überforderung der Behörden. Europa war nicht einmal dazu in der Lage, die Grenzen zu sichern, geschweige denn, solidarisch die Flüchtlinge zu verteilen. Inzwischen hat sich die Lage verändert. Die Türkei hat Milliarden dafür bekommen, dass sie die Flüchtlinge von Europa fern hält. Dadurch sind die Zuwandererzahlen massiv gesunken. Die Krise kann zwar wieder ausbrechen, auf der zentralen Mittelmeerroute deutet sogar vieles darauf hin. Auch verweigern sich Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei bis heute einem EU-Verteilungsschlüssel. Es gibt jedoch nicht mehr die Bilder von Massenzuströmen wie 2015.

In Griechenland ist die Lage derzeit ruhig – in Italien steigt das Risiko

Eine zweite Großkrise ist in der öffentlichen Wahrnehmung derzeit kaum präsent. 2015 eskalierte die Staatsschuldenkrise, Griechenland stand kurz vor dem Austritt aus dem Euro-Raum. Die Gemeinschaftswährung schien in ihrem Bestand gefährdet. Nun ist es wieder ruhiger, weil das Rettungsprogramm für Athen bis 2018 läuft. Risiken gibt es aber in Italien, wo viele Banken unter faulen Krediten leiden.

Im politischen Bereich kamen die zwei großen Stimmungsaufheller von außen – in dreierlei Gestalt des Bösen: Donald Trump, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan stärken das Gefühl der Europäer, dass sie zusammen halten müssen und dass der richtige Weg dafür über Brüssel führt und nicht über die Hauptstädte in den Nationalstaaten. Trump hat nach sechs Monaten Regierungszeit nicht einmal ein größeres Gesetzgebungsvorhaben durchgebracht. Sein absehbares Scheitern dürfte auch dazu beigetragen haben, die Populisten innerhalb der EU zurück zu drängen. Der EU-Hasser Geerd Wilders in den Niederlanden hat bei den Wahlen im März bereits unter dem Anti-Trump-Effekt gelitten. Umso mehr Front-National-Kandidatin Marine Le Pen wenige Wochen später in Frankreich. Wenn sie in den Elysee eingezogen wäre, wäre die EU zumindest für ihre Regierungszeit so gut wie tot gewesen. Nun ist der entschiedene Pro-Europäer Emmanuel Macron Präsident, und die EU gewinnt Handlungsstärke zurück. Nach der Bundestagswahl soll die Währungsunion vertieft werden, auch ein Euro-Zonen-Budget sowie ein Euro-Finanzminister sind im Gespräch. Der zweite Stimmungsaufheller geht auf das Konto von Groß Britannien. Unmittelbar nach dem Sieg der Brexit-Befürworter beim Referendum gab es Sorgen vor einem Auflösungsprozess bei der EU. Inzwischen wirkt der Brexit eher gemeinschaftsstärkend: Der bevorstehende Austritt aus dem Club im März 2019 lässt schon jetzt die Wirtschaft auf der Insel schwächeln. Auch Skeptiker erkennen, dass die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft die Nachteile überwiegen.

Im Jahr 2017 dürfte die Wirtschaft in sämtlichen EU-Mitgliedsländern wachsen

Aus der Wirtschaft gibt es ebenfalls Erfolge zu vermelden. Hier ist das Referenzjahr 2008. Da brach zunächst in den USA die Finanzkrise aus und bescherte in der Folge auch Europa große Probleme. Die Arbeitslosigkeit nahm zu, das Wirtschaftswachstum brach ein. So langsam scheint die EU die Krise weggesteckt zu haben. 2017 dürfte das Jahr werden, in dem die Wirtschaft in sämtlichen EU-Mitgliedsländern wächst. Die Haushaltseinkommen steigen. Die Zahl der Beschäftigten lag 2016 mit 232 Millionen erstmals wieder über der Vergleichszahl von 2008, zwischenzeitlich war sie auf 225 Millionen zurück gegangen. Die Arbeitslosigkeit ist zwar gesunken, aber immer noch in vielen Ländern ein großes Problem. 2008 lag die Zahl der Arbeitslosen EU-weit bei 17 Millionen. 2013 waren es 26 Millionen, 2016 lag diese Zahl immer noch bei 21 Millionen. Vor allem die Quote bei der Jugendarbeitslosigkeit von EU-weit fast 17 Prozent im Mai ist aber immer noch alarmierend hoch.

Fazit: Die EU erlebt gerade ein Comeback. Es gibt Risiken, etwa eine Rückkehr der Flüchtlingskrise sowie der Staatsschulden- oder Bankenkrise, etwa in Italien. Sie sind aber deutlich geringer geworden.