Banken vor der Pleite, Staaten vor dem Bankrott: Die Krise, die 2007 begann, hat die EU und das Leben der Menschen verändert. Die Folgen sind noch immer zu spüren. Zum Schluss der Serie: Eine Analyse zu Europa und Deutschland.

Stuttgart - Man muss nicht erst ein Wort der Bundeskanzlerin bemühen, um zu wissen: Die Vereinigten Staaten von Europa sind alternativlos. Doch als überzeugter Anhänger dieser Idee möchte man sich manchmal die Haare raufen, weil sich wenig bewegt und manches falsch läuft. Das wird uns gerade in diesen Tagen wieder bewusst. Die Krisen in der Welt nehmen zu, Europa aber tut sich schwer, als ein Kontinent unter Kontinenten zu reagieren. Es fehlen ein Verteidigungsminister, ein Finanzminister und ein Flüchtlingsminister, und dieser Mangel hängt schlicht mit der Tatsache zusammen, dass Europa noch immer kein einheitlicher Staat ist, sondern eben ein Staatenverbund, wie ihn das Bundesverfassungsgericht genannt hat.

 

Man hat den Eindruck, dieser Verband rettet sich von Krise zu Krise. Doch derzeit gibt es wieder Aufwärtstendenzen, die Wirtschaft im Euro-Raum wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt, und der Euro ist entgegen allen Prognosen nicht zerbrochen. Vor allem aber: Junge Leute gehen auf die Straße und fordern einen europäischen Staat. Die Situation, ihn endlich zu bilden, wäre also günstig, und genau so sieht es auch die Politik-Professorin Ulrike Guérot. Ihre Reden münden in die Forderung: „Die Nationen müssen weg!“ Sie will, wie sie sagt, die Europäische Union vom Kopf auf die Füße stellen und Europas Bürger endlich zum wahren Souverän machen.

Politische rechte nützt die Situation aus

Die Finanzkrise habe einen Keil zwischen Nord- und Südeuropa getrieben, die Flüchtlingskrise Europa in Ost und West gespalten. Diese Situation nützt die politische Rechte aus, um „völkische“ Gesellschaften zu etablieren und die Nationen nationalistischer zu machen. Dagegen will Ulrike Guérot die EU zu einer wahren Demokratie ausgestalten. Auch die Abwehr gegen Rechts ist also ein wichtiger Grund, mit einem einheitlichen Europa voranzukommen. Wenn man der Professorin zuhört, möchte man am Ende ihrer Rede zum Rednerpult stürmen und ihr begeistert seine Zustimmung bekunden. Aber man tut es dann doch nicht, weil sich der kritische Europäer in uns meldet, zu dem man im Laufe der Jahre geworden ist.

Also dieses Europa ist ohnehin schon schwierig genug mit seine vielen Einzelstaaten, die alle eine lange Geschichte haben, die Sprachen und Mentalitäten ausgebildet haben, von denen die Menschen sich nicht trennen wollen, denn das ist ihre Identität. Erstaunlich, dass Europa trotz dieser Widerstände überhaupt so weit gekommen ist, und es könnte weiter sein, wenn die Eurokraten nicht so viele Fehler begangen hätten.

Fehlerhafte Konstruktion

Der Euro ist ein Beispiel dafür, wie aus europaromantischem Überschwang eine fehlerhafte Konstruktion entstehen kann. Mit dem Euro hat man ein gemeinsames Dach gebaut, aber die Fundamente vergessen. Deshalb ist das Euroland bei der großen Finanzkrise in Turbulenzen geraten, die das Projekt gefährdeten. Immer wieder wird vorgeschlagen, den Euro-Verbund aufzulösen und zu den alten Währungen zurückzukehren. Man sollte solchen Spekulationen ein Ende bereiten, denn die Abschaffung des Euro wäre das Ende der EU. Auch besteht zu Pessimismus weniger Anlass als noch vor einigen Jahren. Klaus Regling ist Geschäftsführender Direktor des Eurokrisenfonds ESM, ein sturmerprobter EU-Beamter. Er meinte dieser Tage, die Euro-Krise sei vorbei, die Währungsunion wetterfester denn je, und sogar Griechenland könne es schaffen.

Wirtschaftlicher Aufstieg und finanzpolitische Stabilität müssten dazu führen, die Jugendarbeitslosigkeit insbesondere in den südlichen Staat endlich abzubauen. Die Quote ist immer noch viel zu hoch und eigentlich ein Schandfleck für die Europäische Union. Als Europäer hat man inzwischen gelernt, dass es in Sachen Europa auf Geduld ankommt und auf das Wissen, dass kleine Fortschritte in diesem Multinationengebilde schon viel bedeuten.

Verträge liberal auszulegen

Dieser Befund bietet hinreichend viele Gründe dafür, von dem Versuch Abstand zu nehmen, eine politische Union sofort bilden zu wollen. Nicht von ungefähr hat Jutta Limbach, die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, vor einem solchen Schritt gewarnt: „So vielversprechend ein solcher Endzustand auch immer sein mag, politisch hat er weder kurz- noch mittelfristig den Hauch einer Chance.“ Sie empfiehlt, das Subsidiaritätsprinzip, das im Lissabon-Vertrag enthalten ist, endlich ernst zu nehmen und die überbordende Regelungswut der Brüsseler Behörden zu bremsen. Und das kann nur heißen, die Verträge liberal auszulegen und die Einzelstaaten regeln zu lassen, was ihre Sache ist.

Das integrative Potenzial europäischer Identität liegt weniger in der Fixierung konkreter Verhältnisse als in einem Prozess des gemeinsamen Suchens nach europäischer Haftung. Ein politisches Europa entsteht nicht durch immer mehr Bürokratie, sondern durch Diskussion. Dabei ist immer auch auf die Geschichte des jeweiligen Landes Rücksicht zu nehmen.

Als Wolfgang Schäuble die Griechen wegen ihres lockeren Umgangs mit dem Geld kritisierte, kanzelte ihn der griechische Staatspräsident Papoulias mit den Worten ab: „Wer ist Herr Schäuble, dass er es wagt, Griechenland zu beleidigen!“

Unfreiwillig in die Rolle eines Anführers hineingewachsen

Damit ist ein besonders heikles Thema angesprochen, denn aufgrund seiner Wirtschaftskraft ist Deutschland unfreiwillig in die Rolle eines Hegemon, eines Anführers hineingewachsen, aber die deutsche Vergangenheit hindert Berlin, diese Rolle voll auszuspielen. Und das ist auch gut so, denn es kommt darauf an, aus der je einzelnen Geschichte der Länder eine gemeinsame zu machen. Länder, die neu dazu gekommen sind, wie etwa Polen oder Ungarn, tun sich damit schwer, weil sie erst einmal Nation sein wollen, bevor sie bereit sind, sich in einem europäischen Staat aufzulösen. Auch hier ist Geduld gefragt.