Banken vor der Pleite, Staaten vor dem Bankrott: Die Krise, die 2007 begann, hat die EU und das Leben der Menschen verändert. Die Folgen sind noch immer zu spüren. Unsere Serie beleuchtet den Alltag. Heute Familie Allen in Irland

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

Strokestown - Am Küchentisch lässt sich bekanntlich am besten reden. Bei den Allens muss es ein Tisch von recht ordentlicher Größe sein. Vier Kinder sind ins Bett gebracht, acht Erwachsene drängen sich in der Küche, außerdem tut ein Babyphone leise summend seinen Dienst. Es wird frischer Tee ausgeschenkt. Eine Feier hat den Teil der Familie Allen zusammengeführt, der in Irland oder nah der Heimat, in England, wohnt. Familienfeiern sind wichtig geworden, seit es die groß gewordenen Kinder der Allens in alle Welt verschlagen hat.

 

Nur einen Ryanair-Sprung weit entfernt

Michael und Catherine, zwei der Allen-Sprösslinge, haben nicht kommen können. Sie wohnen im US-amerikanischen Kalifornien. Elizabeth und Deirdre lebten vor kurzem noch in Australien. Inzwischen sind sie aber beide wieder nach Irland gezogen. Sinéad, die Jüngste, hat sich in London niedergelassen. Verglichen mit San José oder Sydney ist London heute so etwas wie ein Außenbezirk der Grünen Insel – nur einen Ryanair-Sprung weit entfernt.

Die Eltern der fünf, John und Ann Allen, wohnen ihrerseits noch immer in dem Haus, in dem John vor vielen Jahren mit seinen neun Geschwistern selbst einmal aufgewachsen ist. Das Haus steht im Städtchen Strokestown, im irischen Mittelwesten, droben an der Church Street gegenüber der protestantischen Kirche.

Das Stückchen Farmland, das der heute 66-jährige John mit dem Haus geerbt hat, liegt nicht weit weg, auf einem Bergrücken. Seit neuestem steht ein Windrad auf dem Grundstück und produziert Strom, hoch über den blökenden Schafen. Das Gute in Irland ist: An Wind fehlt es nie.

Er war immer eine enge und verschworene Gemeinschaft, dieser kleine Clan der Allens. Umso härter traf es John und seine Frau, als die Finanzkrise, die Irland an den Rand des Bankrott drängen sollte, quasi über Nacht die Familiengemeinschaft sprengte: „Das Schlimmste am Crash war für uns, dass alle unsere fünf Kinder emigrieren mussten. Zuhause gab es nichts mehr für sie, kein Einkommen, keinen Job.“

Generationstypische Geschichte

Deirdre, die Ingenieurin ist und inzwischen 34, hat eine für ihre Generation recht typische Geschichte zu erzählen. Sie hatte 2008 eine gute Stelle in Dublin und war mit ihrem Mann Cathal, einem irischen Bauexperten, auf einer Reise in Australien, als sich die Folgen der Finanzkrise abzuzeichnen begannen.

„Die Arbeitsplätze in der Firma daheim gerieten damals plötzlich ins Wackeln. Kollegen wurden entlassen, Gehälter generell um 25 Prozent gesenkt. Das einzige, was in Dublin stieg, waren die Mieten. Für eine Hypothek ansparen hätte man nicht mehr können. Die Lage war bedrückend. Also beschlossen wir, in Australien zu bleiben. Zumindest für eine Weile, für eine Übergangszeit.“

Das war Anfang 2009. Im Jahr darauf folgte ihr die ältere Schwester Elizabeth, die sich in Australien mit Ryan, einem IT-Designer aus Neuseeland, verheiratete. „Vielen Gleichaltrigen ging es wie uns“, sagt Deirdre. „Die Flugzeuge nach Australien waren plötzlich voll junger Iren.“

„Denn wer seinen Job in Irland verlor und sich das Leben in den Städten nicht mehr leisten konnte, oder wer von der Uni kam ohne Aussicht auf Beschäftigung, der hatte nur zwei Alternativen. Entweder zurück ins Elternhaus zu ziehen und dort von Arbeitslosengeld zu leben, weil auf dem flachen Land keine Arbeit zu finden war – oder eben, wie so viele irische Generationen vor uns, in die Emigration zu gehen.“

Sechs Jahre in Sydney und Melbourne gelebt

Fast sechs Jahre lang lebte Deirdre in Sydney und Melbourne. Zurück Richtung Heimat drängte es sie, als sie ein Kind erwartete. „Wir hatten“, sagt sie, „die langen Flüge satt. Wir wollten unsere Kinder nicht in Australien aufziehen. Wir wollten wieder in der Nähe unserer Eltern, beim Rest der Familie wohnen.“

Das war im Herbst 2014. Zwei Jahre darauf packte auch Elizabeth, mit ihrem zweiten Kind schwanger, in Australien wieder die Koffer. Dies waren die Jahre, in denen Irland das Bailout-Programm zur Reduzierung der Staatsschulden hinter sich gelassen hatte und die Sparmaßnahmen langsam reduziert wurden – und in denen ausgerechnet das ehemalige Sorgenkind der europäischen Staatengemeinschaft die besten Wachstumsraten in ganz Europa verzeichnete.

Diese Wachstumsraten, insistiert die ganze Allen-Familie, bedeuteten aber nicht schon eine Besserung der Situation für den Durchschnittsiren. Denn zu einem Gutteil hat der Aufschwung der vergangenen Jahre mit Rekord-Profiten der in den wenigen Ballungsgebieten Irlands angesiedelten multinationalen Konzerne zu tun. Dort haben sich neue Möglichkeiten eröffnet.

Straßen nach Dublin, Cork oder Galway sind stets überfüllt

In den ländlichen Teilen des Landes mangelt es dagegen weiterhin an Arbeit, an Wohnraum, an Infrastruktur, an sozialen Angeboten. Auch das Pendeln ist ein Problem. Die Straßen nach Dublin, Cork oder Galway sind stets überfüllt, Tickets für Züge und Busse teuer. „Außerdem sind die Verbindungen miserabel“, meint Deirdre. „Pendeln ist hoffnungslos.“

Elizabeth, die mit ihrer Familie vorübergehend wieder bei den Eltern im Haus an der Church Street untergeschlüpft ist, zeigt sich vor allem deprimiert darüber, wie „ausgestorben“ ihr Heimatort inzwischen wirkt: „So viele Geschäfte sind mit Holzverschlägen vernagelt, überall hat’s Graffiti, nirgends herrscht noch richtiges Leben.“ Statt all der Einzelhandelsgeschäfte, die es einmal gab, gibt es heute zwei Wettbüros, in denen die Arbeitslosen ihr Geld verspielen. Und, nicht zu vergessen, zwei Schönheitssalons.

Die 38-jährige Heimkehrerin findet es nicht leicht, in Strokestown neu zu starten. „Wenn du ein Bankkonto einrichten willst, fragen sie dich nach einer Strom- oder Gasrechnung mit deinem Namen – aber die haben wir ja noch nicht, weil wir bei meinen Eltern wohnen. Dann verlangen sie, dass der Ortspolizist einem das bescheinigt. Aber die örtliche Polizeiwache ist aus Spargründen nur noch ab und zu besetzt.“

Mit weiteren Komplikationen wird im Zuge des Brexit gerechnet

Mit weiteren Komplikationen rechnen die Allens in der Folge des Brexit, dem Austritt des großen Nachbarn aus der Europäischen Union. Wenn es wirklich zu einer „harten Grenze“ zu Nordirland, mit Schranken und Zollposten, kommt, wie ganz Irland befürchtet, steigt nach John Allens Überzeugung das Risiko neuer Gewalt auf der Insel: „Der Frieden ist äußerst brüchig. Es gibt eine Menge Hitzköpfe hier“, sagt der 66-Jährige.

Vertrauen die Iren darauf, dass die Europäische Union diese Sache im Sinne ihres Mitgliedsstaates Irland regelt? Viel Zuversicht ist hier am Küchentisch nicht zu spüren: „Wir werden wie immer vor der Tür stehen, bei diesen Verhandlungen. Wir sind ja am Ende nur ein kleines Land“, so die Einschätzung.

Wäre es denn denkbar, dass Irland an der Seite Großbritanniens aus der EU austreten würde, nur um eine „harte Grenze“ zum Norden zu vermeiden? Kopfschütteln rundum, das kann sich keiner vorstellen. Mit dem Brexit, meinen alle, habe sich Großbritannien „auf wirklich dumme Weise“ ins eigene Fleisch geschnitten. Bei allen Zweifeln und aller Kritik an der Staatengemeinschaft, die es in Irland gebe, sei das Band, das die Iren mit Europa verknüpfe, ein festes, ein unauflösliches Band.

Irländer wollen nicht mehr raus aus der EU

Vielleicht, wirft Deirdre ein, hätte man sich in den Jahren vor dem Brexit-Beschluss bei einem ähnlichen Referendum in Irland etwas Sorgen über den Ausgang machen müssen – wegen der Troika-Politik, der Austeritätsmaßnahmen und des großen Fremden-Zuzugs in jener Zeit: „Aber dass wir uns an diese Brexit-Katastrophe dran hängen, kommt nicht in Frage. Das hat keiner vor. Jetzt, nach dem Brexit, will hier niemand mehr raus aus der EU“, lautet das Fazit der Irland-Heimkehrerin.