Auf dass der Friede zum Normalfall werde: Immanuel Kant, dem Philosophen aus Königsberg, verdanken wir das moderne Völkerrecht, auf dem die Gründung der Vereinten Nationen in New York basiert.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Herzlich willkommen im neuen Jahr – und damit leider auch willkommen zu neuen Brandherden! Was uns in dieser Prophezeiung so gewiss macht? Die Lebenserfahrung, dass irgendwo auf dem Globus auch 2016 politische oder wirtschaftliche Krisen (die stets Ausdruck missgünstiger Zwietracht sind) oder schlimmstenfalls ein weiterer Krieg ausbrechen werden. Es vergeht zwar keine Gelegenheit, bei der Politiker nicht beteuern würden, wie unzufrieden sie mit dem Unfrieden auf der Welt sind. Aber zwischen Salonreden und Realpolitik klaffen Lücken.

 

Die Frage nach den Ursachen für den Unfrieden beschäftigt die politischen Denker seit der Antike. Ihre Thesen sind düster. Schon Platon fand, dass das, „was die meisten Menschen Frieden nennen, nur eine Vorstellung ist; in der Wirklichkeit herrscht von Natur aus ständig unerklärter Krieg von allen Städten gegen alle anderen Städte“. Betrachtet man den Umgang, den die europäischen Hauptstädte derzeit in der Flüchtlingskrise miteinander pflegen, lässt sich auch zweitausendfünfhundert Jahre später eine beunruhigende Aktualität von Platonkonstatieren.

In seinen „Fragments sur la guerre“ bezeichnete der Philosoph Jean-Jacques Rousseau den Krieg als ein unvermeidliches Übel, da sich Staaten miteinander vergleichen müssten und von widerläufigen Interessen getrieben seien – 250 Jahre nach ihrem Entstehen bleiben auch diese Worte gültig, siehe den hoch militarisierten Kulturkampf des „Islamischen Staats“ gegen den Westen als Ganzes.Und der Militärtheoretiker Carl von Clausewitz wurde an dieser Stelle jüngst mit den Worten „Selten ist in Europa überall Frieden, und nie geht der Krieg in den anderen Welten aus“ zitiert – man schaue nach Exjugoslawien oder die Ukraine, wo selbst vermeintliche westliche Wertegemeinschaften blutige Auseinandersetzungen und die Erosion von Staatsgebilden nicht verhindern konnten.

Grundregeln des Zusammenlebens

Das bekannteste Traktat der Neuzeit zu diesem Thema trägt den frommen Wunsch bereits im Titel: „Zum ewigen Frieden“ lautet die 1795 erstmals erschienene Denkschrift, eines der drei großen Spätwerke Immanuel Kants. Das vergleichsweise schmale Buch hat den Grundstein für tragende Teile des neuzeitlichen Völkerrechts gelegt, unter anderem für die Charta der Vereinten Nationen in New York. In der Tat beschreibt der Königsberger Philosoph hellsichtig einige Grundregeln, ohne die ein konfliktfreies Zusammenleben der Weltgemeinschaft nicht möglich ist. „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen“, heißt es im fünften der sechs so genannten Präliminarartikel. Wie auch immer man dabei das Wort „gewalttätig“ definieren mag: von Vietnam über den Irak bis nach Afghanistan ist die Reihe der fehlgeschlagenen Versuche lang, Völkern gegen ihren Willen heilbringende demokratische Regierungssysteme aufzuerlegen.

Als zweites Beispiel für Kants Aktualität soll der dritte Definitivartikel in der besagten Schrift zitiert werden. „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein“, schreibt der Denker. Kant entwirft hier eine Art frühes Asylrecht, wenn er ausführt, dass kein Mensch, der fremdes Staatsgebiet betritt, ausgewiesen werden dürfe, wenn ihm anderswo Leid drohe. Er vertritt allerdings auch die Ansicht, dass ein Gastrecht in fremden Staaten immer nur temporär sein kann, es sich also nur um ein Besuchsrecht und kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht handeln dürfe. Auch hierüber kann und darf man unterschiedliche Meinungen haben. Von „Das Boot ist voll“ bis zu „Das schaffen wir“ reicht die Spannweite in der derzeitigen Flüchtlingsdebatte selbst in einem friedliebenden Staat wie Deutschland.

Sein Werk „Zum ewigen Frieden“ hat Kant bewusst in der Form eines fiktiven Vertrags aufgebaut. Einen solchen Kontrakt unter den Staaten zu schließen sei die Grundlage für ein gedeihliches Miteinander. Denn auch er war ja der Ansicht, dass mitnichten Frieden, sondern Krieg der Urzustand der Menschheit sei. Das Buch trägt – altersweise? – den Untertitel „Ein philosophischer Entwurf“, ein Zusatz, womit Kant also bereits die Möglichkeit eines Trugschlusses einschließt – gewiss auch im Bewusstsein, zwar Herr des Worts, aber nicht Herr der Umsetzung konkreter politischer Maßnahmen zu sein.

Im Jahr der Kriege

Vom kleinen Frieden im Privaten bis zum großen Frieden auf der Welt, von der „alltäglichen“ Körperverletzung (527 000 polizeilich erfasste Fälle allein 2014 in Deutschland) bis zum organisierten Massenmord, werden die Menschen auch 2016 häufig nicht in der Lage sein, ihre Konflikte argumentativ, kompromissbereit und gewaltfrei zu lösen. Selbst in jenem aufgeklärten Zeitalter, in dem wir zwei Millennien nach den ersten Demokratieentwürfen zu leben glauben, ist es der Menschheit nicht gelungen, in Eintracht zu leben. Die empörende Menge von 31 Kriegen und bewaffneten Konflikten zählten Friedensforscher der Universität Hamburg im Jahr 2014, im abgelaufenen Jahr ist es auf der Welt bekanntlich nicht friedfertiger geworden. Auch hier mag man in jedem konkreten Fall – von Kurdistan bis Palästina – über Einstufungen und Definitionen diskutieren, die Zahl bleibt aber erschreckend hoch. Die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, als die Clausewitz den Krieg bezeichnet, endet noch immer häufig an einem Ort gegenüber jenem Gasthof, von dessen Namen sich Kant den Werktitel „Zum ewigen Frieden“ entlehnt hat: auf dem Friedhof.

Kant selber übrigens war alles andere als ein Besserwisser, der die Weisheit für sich gepachtet hatte. Er spielte leidenschaftlich gern Karten und Billard und liebte obendrein die Königsberger Salonfeste, bei denen er sich nicht als belehrender Schulmeister, sondern als launiger Anekdotenerzähler hervortat. Vielleicht wäre also, trotz dem Ernst der Lage, allen Regierungschefs als erster Schritt zu einem fruchtbaren Miteinander mehr Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen anzuraten.