Josef Mazur lebt seit neun Jahren in einer Wohnheim der Paulinenpflege Winnenden in der Burg Reichenberg oberhalb von Oppenweiler. Der 76-jährige Einzelgänger verkriecht sich gerne in seiner Stube, dann liest er Zeitung.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Oppenweiler - Früher hat Josef Mazur mitten in Stuttgart gewohnt. Damals, erzählt der wortkarge Mann, habe er in einem Bekleidungsgeschäft gearbeitet. Vor neun Jahren ist der 76-Jährige dann umgezogen in die Provinz. Seither lebt Joef Mazur in einer Wohngruppe der Paulinenpflege Winnenden in der Burg Reichenberg hoch oben über Oppenweiler, zusammen mit rund zwei Dutzend weiteren Männern und Frauen im Alter zwischen 19 und knapp 80 Jahren.

 

Wenn Josef Mazur aus dem Fenster seines Zimmers schaut, dann sieht er das idyllische Murrtal und den Schwäbischen Wald. Das Zimmer mit alten, vergilbten Schwarzweiß-Fotos an den Wänden und einem großen Kruzifix über dem Bett ist Josef Mazurs Rückzugsort, der Einzelgänger verkriecht sich gerne. Kontakte zu den anderen Bewohnern pflegt er nicht. Manchmal spielt er Gesellschaftsspiele mit einem Mitarbeiter.

Bereits nach ein paar Minuten dieser Vormittagsbegegnung im Wohnzimmer fragt er den Arbeitserzieher und Hausmeister, Wolfgang Schneider: „Darf ich jetzt wieder in mein Zimmer?“ Dieser antwortet: „Bleiben Sie doch noch ein bisschen.“ Na gut, wenn’s denn unbedingt sein muss. Mazur berichtet noch, dass er gelegentlich unten im Hof der uralten Burg spazieren gehe oder es sich auf einer Bank gemütlich mache. Er stehe morgens gegen 6 Uhr auf, frühstücke, esse zu mittag. „Und nachmittags, da gibt es Kaffee und Kuchen.“

Wenn ihm die Mitarbeiter gut zureden, dann kommt er auch mal mit zu einer kleinen Ausflugsfahrt. Gefällt dem alten Herrn sein ungewöhnlicher Wohnort. „Ach ja“, ist die Antwort. Nach dem Umzug aus der Landeshauptstadt habe er sich allerdings erst mal eingewöhnen müssen. So, jetzt ist aber endgültig Schluss mit der Fragerei. Josef Mazur hat genug erzählt, er zieht sich in sein Zimmer zurück, zum Ausruhen und Zeitung lesen.

Der Hausmeister hat als Bub im Burggraben gezeltet

Wolfgang Scheider indes hat mehr zu berichten. Er ist nicht nur Erzieher und Hausmeister, sondern auch einer von drei Burgführern. Im Schatten der Burg Reichenberg ist er aufgewachsen, seine Eltern wohnen immer noch nur einen Steinwurf entfernt. Als Bub hat der kleine Wolfgang jede Ecke des imposanten Bauwerks aus dem 13. Jahrhundert erkundet. Sein Kumpel war der Sohn des damaligen Leiters des Heims in der Burg. Die beiden Kinder sind oft auf Entdeckungstour gegangen. Manchmal, sagt Wolfgang Scheider, „haben wir im Burggraben gezeltet“.

Vor rund 25 Jahren hat Schneider auf der Burg seinen Zivildienst absolviert, dann wurde die Hausmeisterstelle frei. Er ist gebleiben, hat eine pädagogische Ausbildung gemacht – und vor rund sieben Jahren zwar den Arbeitgeber gewechselt, nicht aber den Arbeitsplatz. Bis Anfang 2007 wurde das Heim in der Burg Reichenberg von der Evangelischen Gesellschaft (Eva) aus Stuttgart betrieben.

Heim für „sittlich gefährdete und gefallene Mädchen“

Die Burg Reichenberg gehört dem Land Baden-Württemberg und war von der Eva gepachtet worden. Heute ist die Paulinenpflege die Pächterin. 1930 war in dem historischen Gebäude ein Heim für „sittlich gefährdete und gefallene Mädchen“ gegründet worden, manche der Frauen waren geistig behindert. Einige von ihnen lebten jahrzehntelang dort. Erst seit 1997 wohnen auch Männer in der Burg.

Gebaut worden ist die Burg Anfang des 13. Jahrhunderts von dem Badischen Markgrafen Hermann V. Die romanische Anlage ist vollständig erhalten, sie ist vermutlich nie zerstört worden. Von Anfang des 16. Jahrhunderts an fungierte die Burg als Jagdschloss und Forstamt. 1888 ging die Anlage, die auf einem Sporn der Löwensteiner Berge liegt, in die Verwaltung des Samaritervereins über, später übernahm dann die Eva die Anlage.

Das Burgverlies hat eine berüchtigte Geschichte

Das Verlies der Burg hat eine berüchtigte Geschichte. Es wird erzählt, dass anno 1527 eine Witwe aus Stuttgart mit einer Ofengabel über ihre Gartenzaun geritten sei, diese Frau habe mit dem Teufel persönlich eine intime Beziehung gehabt. Sie galt als Hexe, wurde gefoltert. Als sie trotz der Torturen nicht gestand, sei sie drei Jahre lang in den Reichenberger Turm eingesperrt worden, der kein Dach hat. Einem anderen Insassen hätten aufsteigende Dämpfe fast die Sinne geraubt. Erst 1819 verbot der Justizminister das Verlies.

Heute indes geht es sozial zu in der uralten Burganlage. Das kann Josef Mazur bestätigen – wenn er nicht gerade schweigend in seinem Zimmer mit Murrblick sitzt.