Erwachsene sollen sich nicht mit Zwergen und Hexen befassen? Das sehen Fantasy-Fans ganz anders. Sie fordern für ihre Fantasie das Grundrecht auf Reisefreiheit.

Stuttgart - Tagdieberei oder Gehirntraining? Diese Debatte ist älter als das Vokabular, das man braucht, um sie zu führen. Als Og, Bog oder Wog – sein Name ist nicht erhalten, einer unserer grunzenden Vorfahren jedenfalls – seine haarige Hand in Lehm tauchte, um einen Strich an die Höhlenwand zu schmieren, dürften Ug, Wug und Nug mit Steinen nach ihm geworfen und böse die Zähne gefletscht haben.

 

Bog solle sofort diesen Unfug lassen, hieß das, und sich lieber an den wichtigen praktischen Arbeiten beteiligen: brüllend vor der Lagestätte der Horde auf- und ab zu hüpfen, um Wölfe und andere Gefahren für den umherkriechenden Nachwuchs zu vertreiben (der Ursprung von Polizei und Militär); den Wald nach vor Altersschwäche umgefallenem Wild zu durchsuchen, um dann zu behaupten, man habe es gejagt (der Ursprung der freien Wirtschaft); ehrfürchtig den Blitz anzugrunzen (der Ursprung der Religion).

Unter dem Eindruck von Beulen am Hinterkopf mag Bog zunächst nachgegeben haben. Der Wunsch nach Fantastereien aber war von den Vernünftigen und Zweckorientierten dauerhaft nicht zu unterdrücken. Bog oder seine Kinder und Enkel haben weiter Tiere gemalt; Schemen, die man weder essen noch eines wärmenden Pelzes entkleiden konnte. Sie investierten Zeit in etwas, das es so nicht gab, in Zeichen und Symbole, die erst im Kopf des Betrachters Bedeutung, Leben und Substanz bekamen.

Die Höhlenmalereien sollen bitteschön nützlich gewesen sein

Wir werden den Verlauf der jungsteinzeitlichen Fantastereien-Durchsetzung nie mehr ergründen können. Aber so selbstverständlich, als besäßen wir schriftliche Zeugnisse, gehen wir heute von Jagdzauber aus. Wir sprechen den Höhlenmalereien zu, dass sie für die Damaligen eine höchst praktische Funktion besaßen, dass sie das Wild in die Gewalt der Jäger bringen sollten. Für diese Theorie spricht zwar die kultische Anordnung von Tierresten neben einigen Höhlenbildern. Wirklich genährt aber wird sie von Jahrhunderten puritanischer Hirngespinstverachtung. Immer wieder sah sich Kunst dem Vorwurf der Nutzlosigkeit und Sündigkeit ausgesetzt, und immer wieder sind Gegenargumente formuliert worden, warum sie ganz im Gegenteil gerade so nützlich sei wie Hammer, Bügeleisen und Röntgengerät.

Über diese alte Debatte sind wir keinesfalls hinaus. Wenn das moderne Theater sich selbst als Instrument als Gesellschaftsanalyse und als Labor der Wertefortentwicklung verkauft, ordnet es sich dem Reich des Nützlichen zu. Wobei zugleich auch klar wird, wer im modernen Betrieb der Fantasien die Eselsmütze auf hat, wer nun mit Steinen beworfen und angeknurrt werden darf: die Fantasy.

Kaum ist das Wort ausgesprochen, purzeln Figuren aus dem Assoziationsfüllhorn, die wir mit kindlichen Lesefreuden verbinden: Elfen, Zwerge, Drachen, Hexen. Wobei sich der puritanische Gewissensanteil, den die meisten Menschen besitzen, sofort zu Wort meldet und „kindlich“ um eine Winzigkeit verdreht: kindisch sei dieses Zeug, befindet die Meckerinstanz. Schließlich ist Fantasy in der aktuellen Populärkultur keineswegs eine reine Kinderfreude. Vampire, Zombies und Totenbeschwörer sind Gestaltwerdungen erwachsener Ängste.

Wenn man sich vom Definitionsverhau der Insider und Akademiker für einen Moment löst, wenn man die Grenzziehungsversuche zur Horrorgeschichte aufgibt, wenn man die Science Fiction einbezieht, deren Visionen dem Diktum unterliegen, jede hinreichend hoch entwickelte Technik komme dem Uneingeweihten ohnehin wie Magie vor, wenn man statt Fantasy schlicht Fantastik sagt – dann wird deutlich, wie populär dieser Sektor der menschlichen Erfindungskraft in allen Medien ist.

Der „Hobbit“ ist nun wirklich kein Kinderfilm

Im Kino läuft gerade Peter Jacksons Verfilmung von Tolkiens „Der Hobbit“. Die Vorlage war einst als einziges von Tolkiens Mittelerde-Bücher noch halbwegs kindgerecht. Die Kinovariante aber zeigt mit ihrer Freigabe „ab 12 Jahren“, wie sehr sich unsere Maßstäbe verändert haben. Dieses Abenteuerfolge hätten sich vor nicht all zu langer Zeit wohl erst Sechzehnjährige anschauen dürfen. In den siebziger Jahren hätte die Prüfkommission vermutlich gar befunden, dieses teilweise düstere Stück sei überhaupt nicht jugendfrei.

Während hier eine Fantasy-Welt brutaler als früher bebildert wird, um erwachsenen Ansprüchen gerecht zu werden, schämen sich umgekehrt viele Erwachsene nicht mehr, Kinderbücher zu verschlingen. Seit dem Erfolg von „Harry Potter“ kennen nicht nur Marketingspezialisten den Begriff „All Ages“, wobei in dieses Regal fast nur Bücher der Fantastik sortiert werden. In der Fantasy findet offenbar, anders als im Krimi, ein Kurzschluss zwischen dem Kind und dem Erwachsenen statt.

Womit wir zurück beim puritanischen Meckergewissen wären. „Eben, eben“, keift es, „alles kindisches Zeug“, und weist anklagend auf den „Hobbit“ und den „Herrn der Ringe“, auf „Bis(s)zum Morgengrauen“ und „The Walking Dead“ , „Harry Potter“ und sämtliche Superheldencomics nebst deren Verfilmungen. Dann setzt es zum Todesstoß an und schimpft: „Eskapismus! Realitätsflucht!“

Diesem Vorwurf muss man sich stellen. Denn so viele Argumente sich finden lassen, dass und wie Fantastik die Realität oft nur bunt einkleide, um sie kenntlicher zu machen, die Frage, was die meisten Menschen an ihr fasziniere, muss man ehrlicherweise so beantworten: die Fähigkeit, uns aus dem Alltag herauszutragen. Das wird dann von den Fantasyverächtern angeprangert, als handle es sich um Fahnenflucht, als sabotiere da ein Grüppchen Tagträumer den gemeinsamen Überlebenskampf. Ug, Wug und Nug lassen grüßen.

Die Brüder Grimm haben als erste in den Märchenwald geführt

Die Idee allerdings, jeder könne und müsse rastlos an der Verbesserung der Welt arbeiten, stellt eine derartige Mischung aus Sklaventreiberei und Realitätsverkennung dar, dass noch die wildeste Fantasy daneben nüchtern wirkt. Die moderne Gesellschaft vermittelt dem Einzelnen schnell das Gefühl, er sei ein ohnmächtiges Opfer der Verhältnisse oder ein auswegloser Mittäter an großen Menschheitsverbrechen. Dieser lähmenden Frustration kann nur derjenige etwas widerstehen, der Kraftreserven besitzt und im Kopf beweglich bleibt. Fantasy kann mit Geschichten, in denen der Einzelnen durchaus noch Bedeutung und Möglichkeiten hat, zum Frustabbau beitragen. Sie kann, sie muss aber nicht. Denn diese Verteidigung der Fantasy stimmt dem puritanischen Nutzdenken im Grunde zu.

Die Gebrüder Grimm haben uns in der Kindheit in den Märchenwald geführt. Das Bedürfnis, zeitweilig dorthin zurückzukehren, immer noch mit den Grimms oder mit deren entferntesten Nachfahren als Pfadfindern, bedarf gar keiner weiteren Rechtfertigung. Reisefreiheit ist ein Menschenrecht. Der erste Strich an einer Höhlenwand war ihr Manifest. Wir sollten stolz sein, dass sich der tadelnde Ug und seine Kumpane, die Honeckers und Ulbrichts der Einkerkerung im bloß Wirklichen, nicht durchgesetzt haben.