Fast alle Krisen und Kriege der Erde landen irgendwann im Kreis Böblingen: In speziellen Vorbereitungsklassen lernen Kinder und Jugendliche aus aller Herren Ländern Deutsch.

Sindelfingen - Nasratullah ist 17 und stammt aus Afghanistan. Eine Schule hat er dort kaum von innen gesehen. Fast zwei Jahre dauerte seine Flucht nach Deutschland – ganz allein auf dem Landweg, er wurde von einem Fluchthelfer zum andern weiter gereicht. Seit einigen Monaten nun lernt er in der Sindelfinger Gottlieb-Daimler-Schule Deutsch. Sein großer Traum ist eine Ausbildung als Kfz-Mechatroniker. Doch dazu fehlt ihm der erforderliche Schulabschluss.

 

Roberta kam vor drei Jahren mit ihren Eltern aus Rumänien nach Sindelfingen. Die Schule hat die 20-Jährige bereits in ihrer Heimat mit einem der Mittleren Reife vergleichbaren Abschluss beendet. Deutsch beherrscht Roberta mittlerweile fließend. Nun ist sie auf der Suche nach einem Praktikumsplatz, am liebsten im Einzelhandel. In ihre Heimat Rumänien möchte sie niemals zurück. „Nur hier in Deutschland habe ich eine Zukunft.“

Ganz anders sieht das Andres aus Kolumbien. Der 17-Jährige ist nicht freiwillig in Deutschland. „Meine Mutter hat hier vor drei Jahren geheiratet. Vor einem Jahr bin ich nachgezogen.“ Nun lebt er bei ihr und dem jüngeren Bruder im Leonberger Stadtteil Gebersheim. „Mein Bus fährt jeden Tag um 6 Uhr“, beschwert sich der 17-Jährige. In seiner Heimat sei der Schulalltag viel lockerer gewesen.

Nasratullah, Roberta und Andres sind drei von insgesamt 20 Schülern zwischen 15 und 20 Jahren der Vorbereitungsklasse der Gottlieb-Daimler-Schule (GDS). Sie stammen aus zehn verschiedenen Ländern. Manche haben in ihrer Heimat die Schule bereits erfolgreich abgeschlossen, andere sind Analphabeten. Für die meisten ist Deutschland das ersehnte Paradies, einige aber sind nur widerwillig mit den Eltern mitgekommen.

Vor anderthalb Jahren wurden im Kreis spezielle Klassen für jugendliche Zuwanderer an Berufsschulen eingerichtet. Zuvor waren die wenigen Jugendlichen gemeinsam mit jüngeren Kindern unterrichtet worden. Doch nun strömen immer mehr Migranten ins Land, darunter auch viele Familien mit halbwüchsigen Kindern oder alleinstehende Jugendliche. Zurzeit gibt es im Landkreis drei Vorbereitungsklassen für Jugendliche: zwei an der Gottlieb-Daimler-Schule in Sindelfingen, eine Klasse an der Böblinger Mildred-Scheel-Schule. Doch die Klassen platzen aus allen Nähten.

„Erst diese Woche musste ich zwei syrische Jungen abweisen, weil unsere Klasse voll ist“, sagt Wolfgang Warth, Lehrer an der Gottlieb-Daimler-Schule. Erst im September hat er wieder Platz. Solange sind die beiden vertrösteten Jugendlichen allerdings ohne sinnvolle Beschäftigung und ohne Deutschunterricht.

Ständig kommen neue Schüler

Der Leistungsstand der 20 Schüler ist sehr unterschiedlich. „Während des Jahres nehmen wir ständig Neue auf: Die fangen dann bei Null an, während die anderen schon ganz gut Deutsch können“, so Warth. „Eigentlich bräuchten wir viel mehr Lehrer und Betreuer, um die Jugendlichen individuell zu begleiten.“ Der Schulsozialarbeiter Andreas Nießner wünscht sich ein Netzwerk von Sport- und Musikvereinen sowie Feuerwehr, die den Jugendlichen die Integration erleichterten.

Denn der Start in Deutschland ist für die jungen Leute schwierig. Sie mussten ihre Freunde in der Heimat zurücklassen. Hier fangen sie bei Null an: ohne Sprachkenntnisse, ohne Wissen über Bräuche und Gepflogenheiten. Manche scheitern an ganz einfachen Dingen. „Wir haben ein Mädchen, das sich trotz passabler Deutschkenntnisse nicht traut, in der Eisdiele ein Eis zu bestellen“, erzählt der Schulsozialarbeiter Andreas Nießner. „Wie soll sie da in einem Bewerbungsgespräch um einen Praktikumsplatz selbstbewusst auftreten.“ Ein anderer sehr motivierter Schüler sei eine halbe Stunde zu spät zum Vorstellungsgespräch gekommen, weil er den Busfahrplan falsch verstanden habe. „Für die Firma war das damit gelaufen“, erzählt Nießner.

Den Einstieg in den Beruf zu finden, ist das Ziel aller Jugendlichen der Vorbereitungsklassen. Einigen wenigen gelinge sogar der Sprung auf das Gymnasium. „Das sind zurzeit vor allem Kinder aus syrischen Akademikerfamilien“, sagt Warth.

Fast alle Krisen und Kriege der Welt spiegeln sich irgendwann in den Vorbereitungsklassen. Waren es im vorigen Jahr vor allem Griechen und Spanier, die vor der Wirtschaftskrise flüchteten, sind es nun syrische Kriegsflüchtlinge und Rumänen, die seit Jahresbeginn in den EU-Ländern Arbeit suchen können. „Jeder hat sein besonderes Schicksal“, so Warth.

Nicht allen gelingt es, hier Fuß zu fassen. „Die, die nur widerwillig kommen, tun sich besonders schwer“, sagt der Sozialarbeiter Nießner. Manche scheiterten auch auch am Aufenthaltsrecht, müssen das Land wieder verlassen. Die meisten Jugendlichen aber würden sich nach einiger Zeit besser zurechtfinden als ihre Eltern. „Etwa 80 Prozent werden es schaffen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen“, ist sich Nießner sicher.

260 Kinder und Jugendliche lernen Deutsch

Jugendliche
An den Berufsschulen im Kreis Böblingen gibt es zurzeit drei Vorbereitungsklassen für Jugendliche: zwei in Sindelfingen an der Gottlieb-Daimler-Schule, eine an der Böblinger Mildred-Scheel-Schule. Diese bieten Platz für 60 Schüler. Im September werden zusätzliche Klassen an der Herrenberger Hilde-Domin-Schule sowie am Berufsschulzentrum Leonberg eingerichtet.

Kinder
Für alle Kinder gilt Schulpflicht. 200 Sechs- bis 15-Jährige lernen momentan in 13 Vorbereitungsklassen an vier Grund- sowie acht Werkrealschulen im Kreis Deutsch. „Sobald die Kinder die Sprache ausreichend verstehen, nehmen sie stundenweise am Unterricht in den normalen Klassen teil“, berichtet Elena Schlegel, die an der Sindelfinger Goldbergschule seit 20 Jahren ausländische Schüler vorbereitet. Angefangen werde mit Mathe, Sport und Musik. „Nach und nach kommen die anderen Fächer hinzu. Ergänzend gibt es intensiven Deutschunterricht.“ Jedes Kind habe ein anderes Lerntempo. „Ich habe jetzt einen 13-Jährigen aus Portugal nach vier Monaten ans Gymnasium vermittelt. Andererseits kommen immer mehr Romakinder, die Analphabeten sind.“