Ein 39-Jähriger muss mehr als vier Jahre in Haft, weil er seine kleine Nichte missbraucht hat. Das Strafmaß liegt damit höher als von der Staatsanwaltschaft gefordert.

Rems-Murr: Phillip Weingand (wei)

Aspach/Stuttgart - Der Angeklagte hatte seine Unschuld stets beteuert: Seine Nichte habe sich nur ausgedacht, dass er sie vor mehr als fünf Jahren sexuell missbraucht habe. Der angebliche Grund: Er habe sich von der Familie seiner Schwester 2000 Euro geliehen. Die Anschuldigungen sollten ihn zur Rückzahlung zu drängen.

 

Als die Richterin das Urteil am Donnerstag verlas, kämpfte der 39-Jährige kurz mit den Tränen: Vier Jahre und drei Monate Haft, mehr als die Staatsanwältin gefordert hatte. Zunächst – nachdem man die Schilderungen des Opfers hochgerechnet hatte – war die Staatsanwaltschaft von 300 Fällen sexuellen Missbrauchs ausgegangen, beschränkte sich in der Anklage dann aber auf eine Minimalanzeige.

Richterin: „Das war mit Sicherheit sogar öfter“

Diese sah das Gericht allerdings als erwiesen an: Zehn Mal hat sich demnach der Mann, der zwischen 2009 und 2012 zeitweise bei der Familie seiner Schwester gelebt hatte, nachts zu seiner damals sechs- bis neunjährigen Nichte ins Bett gelegt, sie geküsst, intim berührt. Er rieb sich an ihr, in einem Fall plagten sie danach Schmerzen im Unterleib – ob ihr Onkel sie vergewaltigt hat, blieb unklar. „Das geht aber sehr in Richtung Beischlaf“, so die Richterin. Sie machte in der Urteilsbegründung keinen Hehl daraus, dass sie dem Angeklagten seine Unschuldsbeteuerungen nicht glaubte: „Das war mit Sicherheit sogar öfter – wir beschränken uns hier lediglich auf das Minimum.“

Bei Verhandlungen wegen Sexualstraftaten, die lange zurückliegen, stehen Gerichte immer wieder vor der schwierigen Entscheidung, welche Aussagen sie glauben können. Bei dem heute 14-jährigen Mädchen war sich die Zweite Große Jugendkammer aber sicher, dass sie die Wahrheit erzählte: Über Jahre hinweg hatte sie sich einer Freundin und einer Sozialarbeiterin offenbart, nicht jedoch ihren Eltern – aus Angst, die Familie zu zerstören.

Das Opfer leidet bis heute unter dem Missbrauch

Vor Gericht hatte sich das Opfer nicht mehr geäußert, jedoch zugestimmt, dass die Videovernehmung unter Ausschluss der Öffentlichkeit gezeigt werden durfte. Für eine Lüge seien ihre Schilderungen zu konstant, zu detailliert – außerdem, so die Richterin, hätte sie, falls sie sich die Taten nur ausgedacht hätte, schwerwiegendere Delikte wie eine vollzogene Vergewaltigung oder massive körperliche Gegenwehr dazudichten können. Das hatte sie jedoch nie getan.

Die Richterin betonte, dass die Taten des Onkels das Opfer bis heute verfolgen: „Sein Zugriff konnte immer passieren, selbst wenn sie sich schlafend stellte. Sie hatte keinen Schutzraum.“ Bei Familienfeiern habe sie so tun müssen, als sei nichts passiert. Herausgekommen war der Missbrauch schließlich, als das Mädchen Ende 2016 ohne ersichtlichen Grund in Ohnmacht fiel. Danach offenbarte sie sich einer Psychologin. „Nach wie vor besteht Therapiebedarf“, so die Richterin.