Zurzeit sind alle Varianten von mehr oder minder Staatlichkeit samt den Folgen in den Konfliktszenerien der Welt aufs Anschaulichste zu besichtigen. Nicht nur ein Zuviel an Staat, auch ein Zuwenig kann Tod und Teufel bedeuten – meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Wenn die halbheilige Margot Käßmann zu Hitlers Zeiten gelebt und ihren bedingungslosen Pazifismus, ihre Gutmenschenideen und Gutzuredereien zur Bekämpfung des Jahrtausendverbrechers einzusetzen versucht hätte, dann wäre sie wie Carl von Ossietzky im KZ gelandet und hätte das Dritte Reich nicht überstanden. Aber Gott sei Dank hatten die Amerikaner andere Strategien im Gepäck. Sie bekämpften Adolf, den Allerschrecklichsten, mit schweren Waffen und entrichteten dabei einen hohen Blutzoll. Zusammen mit ihren Verbündeten siegten sie am Ende. Anders als mit Gewalt war es nicht zu machen.

 

Es war auch nicht einfach, die Ideologie des Nationalsozialismus vollends aus Deutschland zu vertreiben und die lieben Landsleute mit einem Leben in der Demokratie zu versöhnen. Allerdings hat die totale Niederlage den richtigen Gedanken auf die Sprünge geholfen. Aber viele, die den Krieg zu Hause überlebt hatten oder von der Front heimkamen – so auch ein junger Offizier namens Helmut Schmidt – wussten gar nicht, was demokratische Politik überhaupt sein könnte. In englischer Gefangenschaft hat Schmidt es dann gelernt und später als Bundeskanzler vorbildhaft umgesetzt. Die Amerikaner aber hatten mit dem Sieg über das angeblich Tausendjährige Reich und mit der wundersamen Verwandlung Deutschlands in einen demokratisch verfassten und regierten Verbündeten eine Art Erweckungserlebnis. Ein Damaskus.

Die Amerikaner sind immer noch die Weltpolizei

Ja, großartig, so ging das. Man konnte die eigene Art zu leben und Politik zu machen exportieren, man konnte seine bewährten Werte weitergeben. Sie kamen ja ursprünglich auch aus Europa. Und so hatte die Geschichte ein Wohlgefallen daran. Das war insofern von besonderem Belang, als die Amerikaner in diesen Jahren und lange danach taten, was sie auch heute noch tun – aber nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Sie treten als Weltpolizist auf. Sie waren die Mächtigsten und sind es bis jetzt. Als Saddam Hussein sich dann wie ein zweiter Hitler gebärdete und sie sich, wenn auch aus sehr zweifelhaften Gründen, entschlossen, dem eine Ende zu bereiten, erwarteten sie, das deutsche Wunder würde eine irakische Wiederauferstehung erleben. Vater Bush war noch vorsichtig gewesen, als er es mit der Vertreibung der Iraker aus Kuwait gut sein ließ. Der Sohn wollte dem Alten wohl zeigen, wie man es richtig macht. Die deutsche Nachkriegsgeschichte beflügelte seinen Angriff. Von Anfang an begleiteten ihn die Erwartungen aus dem Erweckungserlebnis des Jahres 1945. Auch der Irak würde eine Demokratie werden.

Wir wissen, wie es ausgegangen ist, wir ahnen, wie viel Schlimmeres noch nachkommen kann. Und was im Nahen Osten, ja fast in der gesamten arabischen Welt geschah und geschieht, lehrt uns etwas, woran anno 1945 und auch lange danach niemand gedacht hat: ein zu starker Staat, ein totalitärer gar wie die beiden massenmörderischen des zwanzigsten Jahrhunderts – der Hitler-Staat und der Stalin-Staat – sind etwas Furchtbares. Eine Barbarei. Aber ein zu schwacher Staat oder gar kein Staat – also Herrschaftslosigkeit – , das ist nicht minder barbarisch. Kaum sind die ordnenden Mächte verschwunden, schon bröckelt der Firnis der Zivilisation. Clans, Horden und ihre Häuptlinge ergreifen die Macht, bekämpfen sich gegenseitig, machen ihre eigenen Gesetze, ihre eigenen Gefangenen, rauben, morden, foltern, vergewaltigen. Rückfall in den Urzustand. Keiner ist seines Lebens, seiner Freiheit und seiner Besitztümer noch sicher, und man begreift, welchen Fortschritt die Erfindung des staatlichen Gewaltmonopols bedeutet.

Testosterongeladene Horden

Zurzeit sind alle Varianten von mehr oder minder Staatlichkeit samt den Folgen in den Konfliktszenerien der Welt aufs Anschaulichste zu besichtigen. Es ist wie aus dem Lehrbuch. Wir sehen den schwächelnden Staat in der Ostukraine, der die Separatisten und ihre Unterstützer geradezu ansaugte; wir erleben den Urzustand menschlicher Gesellschaften im failed state Somalia; wir schauen entsetzt nach Libyen, wo der Westen eine Situation herbeigebombt hat, die der somalischen ähnelt. Auch Syrien droht in einem vergleichbaren Chaos zu versinken. Und erscheint nicht der Diktator Assad, den fast die ganze Welt – und mit ihr auch fast alle Kommentatoren bei uns – fallen sehen wollten, plötzlich als die erträglichere Lösung? Müssen die Ägypter nicht froh sein, dass sich in ihrem Lande ein Ersatz-Mubarak durchgesetzt hat? Und wie schön wäre es doch, es gäbe im Irak einen Starken wie diesen gar nicht lupenreinen General Sisi, der den sogenannten Islamischen Staat zerschlüge.

Denn der ist ja das genaue Gegenteil von Staat, nämlich der absolute, gesetzlose Albtraum einer testosterongeladenen Hordenherrschaft und ihrer Willkür. Steinzeit pur. Aus Lust mordend, Köpfe abhackend, ganze Völkerschaften verjagend und abschlachtend, Andersdenkende kreuzigend, Frauen steinigend, raubend, verkaufend und versklavend. So ist der Mensch? Ja, so kann er sein. Es bringt nichts, mit solchen Leuten zu reden. Das hat schon bei den Nazis nicht geholfen, liebe Frau Käßmann. Die Politiker des Appeasement haben es doch versucht. Nein, da muss man Pflugscharen zu Schwertern umschmieden. Aber dass aus dem dann besiegten mörderischen Chaos wiederum ein problematischer Staat entsteht – , das kann man natürlich nicht ausschließen. Und auf so wundersame demokratiebewegte Erweckungserlebnisse, wie sie Deutschland nach 1945 den Amerikanern bescherte, braucht ganz gewiss niemand zu hoffen.