Unterstützen viele Deutschtürken Recep Tayyip Erdogan nur, weil Deutschland sich nicht um sie kümmert? Unsere Kolumnistin weist das zurück, denn: Werden wir nicht alle von der hiesigen Politik ignoriert? Und ist das nicht gut so?

Stuttgart - Immer abends, wenn die Nachrichten aus den öffentlich-rechtlichen Sendern über den Äther gehen, hagelt es Ohrfeigen. Wir, die Bundesrepublikaner, der Westen, wir Kapitalisten und Neoliberalen mit unseren bösen, bösen Staaten, sind schuld am Unrecht, das in der Welt wütet. In der Tagesschau vom vergangenen Samstag, gleich an erster Stelle, war es wieder so weit. Der türkischstämmige Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu nahm die Gelegenheit eines Straßeninterviews wahr, um die allfällige Kopfnuss auszuteilen. Wir sind nicht nett genug zu den Türken. Mit anklagendem Schmerz im Blick behauptete der Volksvertreter, es läge an der hiesigen Politik, dass viele Deutschtürken so begeistert von Erdogan seien und beim jüngsten Referendum für ihn gestimmt hätten. Der türkische Staatspräsident vermittle ihnen eben den Eindruck, dass sie wichtig seien. Hierzulande habe man sie jedoch jahrzehntelang ignoriert.

 

Vorwürfe dieser Art häufen sich in jüngster Zeit, und ich frage mich, was wir Bundesrepublikaner und unser Staat diesen Leuten angetan haben, denen sich Außenminister Sigmar Gabriel in der Bild-Zeitung sogar ausgesprochen freundschaftlich zuwendet.

Wie schön, vom Staat ignoriert zu werden

Vor allem aber frage ich mich, was die hiesige Politik, wie der Mann sich ausdrückte, hätte tun können, tun sollen, tun müssen. Mit Verlaub: Werden wir nicht alle von der hiesigen Politik ignoriert? Und ist das nicht ein Gewinn? Wie schön, von einem Staat ignoriert zu werden. Im Dritten Reich und in der DDR konnte man erleben, wie es ist, wenn der Staat den Einzelnen nicht ignoriert, wenn er Gefolgschaft und Gesinnungstreue einfordert und im Falle, dass dies nicht geliefert wird, den Menschen nachts die Stasi oder die Gestapo ins Haus schickt. Und widerfährt nicht just dies türkischen Bürgern mitsamt ihren ausländischen Besuchern am Bosporus? Sehen sich nicht so furchtbar viele willkürlich verhaftet und auf unbestimmte Zeit weggesperrt? Da soll also ausgerechnet Recep Tayyip Erdogan der sich Zuwendende, sich Erbarmende sein? Einer, der - wie er in der vergangenen Woche in die Welt hinausposaunte - seinen Gegnern die Köpfe abreißen lassen will? Und unsere feine, rechtsstaatliche Bundesrepublik, die es nicht einmal schafft, abgelehnte Asylbewerber auszuweisen, soll dieser Entwicklung den Weg bereitet haben? Wir hier sind schuld daran, dass sich die Deutschtürken mehr Erdogan-türkisch als Merkel-deutsch fühlen?

Aber was können wir dafür, dass sie mehr fühlen als nachdenken? Denn hielten sie kurz inne und beschauten, was sie haben, so wäre doch auf keinen Fall zu übersehen, dass wir hier auf einer Insel der Seligen leben. Noch!! Deshalb sind die Zugewanderten ja auch hier, und selbstverständlich gehören sie dazu. An all den schönen und selig machenden Einrichtungen der Bundesrepublik haben sie Anteil, nichts ist für die sogenannten Bio-Deutschen reserviert. Bei uns sind vor dem Gesetz alle gleich. Auch vor den Sozial- und Arbeitsgesetzen.

Wer hier lebt, hat Grund zur Freude

Deshalb ist es irgendwie schwer verständlich, dass Menschen hier in Freiheit leben und arbeiten, alle Wohltaten genießen und dann einen Despoten zu ihrem politischen Lieblingsgott hochjubeln, nur weil er von einer Heimat spricht, die inzwischen nichts Heimatliches und nichts Anheimelndes mehr an sich hat. Es ist auch nicht zu begreifen, dass sich ein Bundestagsabgeordneter zur Rechtfertigung türkisch-deutscher Ressentiments und zum Ankläger gegen die hiesige Politik aufschwingt. Er gehört doch selbst dazu, er hat hier Karriere gemacht, einer der vielen Deutschtürken, die in der Politik und den Medien Erfolg haben. Zu alledem war Mutlus Partei von 1998 bis 2005 an der Bundesregierung beteiligt. Warum hat sie damals ihre türkischen Schwestern und Brüder nicht zufriedengestellt?

Lag es an Schröders SPD, welche die türkischen Sonderinteressen ignoriert und die Grünen ausgebremst hat? Oder geht es darauf zurück, dass die Unzufriedenen unter den hier lebenden Türken sich gehindert sehen, in ihrem deutschen Umfeld das alte türkische Leben ungestört weiterzuleben? Schließlich sind sie es doch, die unsere Gebräuche ignorieren. Sie sind es, die sich verschließen, Parallelwelten aufbauen, die ihre mitgebrachte Kultur mit ihren uns fremden, zum Teil archaischen Regeln beibehalten möchten, selbst wenn deutsche Gesetze dagegen stehen. Das wird als hinderlich empfunden. Oder ist es vielleicht einfach so, dass sie beides haben wollen, das türkische und das deutsche Leben? Also die Arbeit, den Sozialstaat, die Freiheit draußen, vorweg für die Männer, und gleichzeitig das Patriarchat zu Hause, mit seinen Folgen in unseren Schulen und Gerichtssälen?

Aber das geht nicht. Gäben wir dem nach, landeten wir am Ende bei der Selbstaufgabe und Erdogan würde noch unverschämter versuchen, die Bundesrepublik gleich mitzuregieren. Wer hier lebt, hat Grund zur Freude.

Das Jammern aus dem deutsch-türkischen Milieu, nicht die  Ignoranz  der  hiesigen  Politik  beflügelt Erdogan. Also, liebe türkischstämmige Mitbürger: Jauchzet, frohlocket, bekennt euch zu Deutschland, hier seid ihr wirklich zu Hause.

Vorschau  Kommende Woche schreibt an dieser Stelleunser Kolumnist Götz Aly.