Die Nazigräuel währten zwölf Jahre. Dann läutete der D-Day das Ende dieses Irrsinns ein. Dieser hätte auch das geplante Tausend gefüllt – meint unsere Kolumnistin.

Stuttgart - Zwölf Jahre! Was ist das schon? Vor zwölf Jahren lag die deutsche Einheit bereits mehr als eine Dekade zurück. Da waren wir längst wieder ein Volk und eine Nation. Während dieser zwölf Jahre gab es einen einzigen Kanzlerwechsel. Die Hartz-Gesetze brachten unsere Wirtschaft voran. In Europa sind wir ein bisschen einflussreicher geworden. Sonst hat sich nicht so wahnsinnig viel verändert. Nur die Energiewende macht uns richtig zu schaffen. Doch der Alltag fühlt sich wie damals an.

 

Die Sorgen sind vergleichsweise klein: zu viele Autos, zu viel Fett im Essen, zu viel Stress im Beruf, zu viel Handygequatsche und Digitales hier und da und überall. Als Ausgleich aber Ferien auf Mallorca oder im Schwarzwald, Skifahren und Shoppen. Wer das Berlin von 2002 kannte, wird es heute wiedererkennen; wer einmal in Pforzheim zu Hause war, wird nach der Rückkehr keine Trümmerwüste vorfinden; wer an einem Abend im Jahr 2002 zu Bett gehen konnte, ohne sich vor Bombennächten fürchten zu müssen, der darf das auch in diesen Tagen genauso tun. Das sah 1945, nach Adolf Hitlers schreckensvoller Herrschaft, völlig anders aus.

60 bis 70 Millionen Menschen sind ums Leben gekommen

Es waren nur zwölf Jahre. Vielleicht haben wir das vergessen, vielleicht verdrängt. Vielleicht haben die Jüngeren es nie gewusst oder wägend wahrgenommen. Jetzt aber, aus Anlass der 70. Wiederkehr der Landung der Alliierten in der Normandie, kam uns dieses gewaltige militärische Ereignis so nah wie lange nicht mehr: mit einer Flut an Informationen, an Bildern von den alten Männern, die damals so strahlend jung gewesen waren, an Filmen, an Erinnerungen, an berührenden Bekenntnissen und Lektüren.

Ein tausendjähriges und rassenreines germanisches Reich hatten die Nazis errichten wollen. Nach nur zwölf Jahren läutete der D-Day das Ende dieses Irrsinns ein. Doch gemessen an dem, was in diesen zwölf Jahren geschehen war, hätten es gut und gern tausend gewesen sein können. So viel Hölle war noch nie. 60 bis 70 Millionen Menschen kamen in den Kriegshandlungen und Todeslagern unter grauenvollsten Bedingungen ums Leben.

Deutschland lag in Schutt und Asche. Es hatte die Welt beherrschen wollen und bei diesem Unterfangen alles verloren: den Krieg, den es mutwillig begonnen hatte, die nationale Einheit, seinen guten Ruf als ein Land des Geistes, der Hochkultur und der Wissenschaft, dazu unendlich viele herausragende Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler, also einen beträchtlichen Teil seiner Intelligenz, seiner Eliten. Es hatte sie verjagt oder ermordet – entweder weil sie Juden oder weil sie Gegner des Systems waren. Der Jahrtausendverbrecher Adolf Hitler hatte über das Jahrtausendgenie Albert Einstein gesiegt. Ein Kulturvolk in der Mitte Europas war einem ungebildeten und größenwahnsinnigen Psychopathen blindlings und nibelungentreu in den eigenen Untergang gefolgt. Es war dem Faszinosum des absolut Bösen erlegen.

Wie konnten die klugen Deutschen nur so dumm sein?

Die Bedrohten versuchten dem Mordfuror zu entkommen

Und was hätte aus dem Land werden können? Wie hätte es sich entwickelt, wenn man die zahllosen Wissenschaftler, die der Nazistaat ihrer Ämter und Ehren beraubte, nicht mit dem Tode bedroht und vertrieben hätte? Was wäre geworden, hätten Filmleute wie Robert Siodmak, Musiker wie Otto Klemperer und Kurt Weill, Schriftsteller wie Oskar Maria Graf, die Manns und Erich Maria Remarque, Architekten wie Walter Gropius, Psychologen wie Erich Fromm, Philosophen wie Hannah Arendt bleiben und ohne Brüche weiter wirken können? Niemals sind diese Verluste eingeholt worden. Auch die ganz besondere Spezies der deutschen Juden kehrt nicht zurück. Was für ein kreativer und intellektueller Aderlass, was für eine Selbstberaubung der deutschen Nation!

Es versuchte ja fast jeder Bedrohte, der Köpfchen und die Mittel hatte – sofern es ihm oder ihr noch gelang – vor dem Mordfuror der Nazis zu fliehen. Sehr viele zog es in die USA. Dort belebten sie die Filmindustrie – da waren die Österreicher führend, ohne die Hollywood niemals geworden wäre, was es dann war: Fred Zinnemann und Otto Preminger, Fritz Lang und Billy Wilder. In ihrem Gastland bereicherten die Emigranten die Musikszene, die Wissenschaft, die Theater. Die Liste derer, die drüben über dem Großen Teich landeten, umfasst Hunderte und Aberhunderte. Das sollten die lieben Amerikafeinde hierzulande – selbst wenn sie Grund haben, sich über die Lauschaktionen der NSA zu erregen – nicht vergessen, so wenig wie den Blutzoll, den die GIs bei der Landung und den Kämpfen in der Normandie und anderswo leisteten.

Wer hat eigentlich die letzten Jahre in all der Begeisterung über den Erfolg der alliierten Landung davon gesprochen, welchen tödlichen Schrecken das Unterfangen auch für die Sieger bedeutete? Und wie kann man begreifen, dass der Wahn bei unseren Vorfahren so tief saß, dass sie die Kraft hatten, bis zur Kapitulation noch fast ein ganzes Jahr lang durchzuhalten, obwohl der Krieg doch offensichtlich längst verloren war? Nur zwölf Jahre, die nicht bloß Deutschland, sondern die Welt veränderten. Ganze Bibliotheken sind darüber geschrieben worden, wie das geschehen konnte. Das Rätsel bleibt trotzdem ungelöst.