Weil ihnen der Mut fehlt, trotten so viele Bürger den pseudo-mutigen Organisatoren von Pegida hinterher – meint die StZ-Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Erst nichts als winterliche und frühabendliche Dunkelheit. Dann Schatten, die herbeihuschen, an der Hofkirche entlang, das Taschenberg-Palais streifend, sich schließlich zusammenballend und zu einer schwarzen Masse anwachsend. Plötzlich Licht, Fackeln, patriotische Transparente. Deutschland einig Vaterland. Eine unglaubliche Sehnsucht mittendrin. Tränen. Alles so echt, so aus der Not von Jahrzehnten der Trennung und Unterdrückung geboren. Am nächsten Morgen stehen sie auf den Dächern, drücken sich Leib an Leib vorm Hotel Bellevue, wo sich Helmut Kohl und Hans Modrow treffen, sodass man kaum noch Atem bekommt. Das war damals, 1989, als die Einheit den ersten Anlauf nahm.

 

Jetzt, 25 Jahre später, drängen sich wieder ein paar Tausend durch den vorweihnachtlichen Dresdener Abend. Wiederum verweisen ihre Transparente auf die Liebe zum Vaterland, wieder behaupten sie, das Volk zu sein. Schwarz-rot-golden leuchten ihre Farben wie jene der Vereinigungssüchtigen im letzten Jahrhundert. Doch dieses Mal ist nichts echt. Der aktuelle Protest trägt nur die Kleider jener Zeit. Wir sehen Etikettenschwindler, die behaupten, Patrioten zu sein und doch nur Diebe einer historischen Marke sind, Nachahmer, Plagiatoren. Und das natürlich in Dresden, in Sachsen, damit auch dem letzten Deppen aufgeht: hier findet eine Revolution statt. Ein Aufstand der Deutschen gegen die drohende Islamisierung unseres geliebten christlich geprägten Abendlandes.

Lauter böse Buben und böse Mädchen

Merkwürdig nur: wer durch Dresden geht, sieht kaum einmal ein islamisch-züchtiges Kopftuch. Viel deutscher kann eine Stadt nicht sein als diese wiederbelebte Metropole. Doch wie verquer auch immer die Hintergedanken der Organisatoren sind, sie haben Zulauf. Es sind Nazis, Rassisten, Nationalisten. Lauter böse Buben und böse Mädchen. Die gibt es. Aber dass ihnen so viele andere folgen, „aus der Mitte der Gesellschaft“, wie es heißt, muss unseren Spürsinn wecken. Warum tappen redliche Bürger ihnen hinterher? Warum lassen sie sich missbrauchen, obwohl diese Aufmärsche, trotz der verwandten Ausstattung, ganz offensichtlich mit den Montagsdemos von 1989 in Wahrheit nicht das Allergeringste zu tun haben?

Jene damals protestierten gegen den Mangel an Freiheit. Diese hier wenden sich gegen ein Zuviel davon – zumindest was die Großzügigkeit gegenüber Ausländern betrifft. Damals, unter den Honeckers, gab es keine Meinungsfreiheit und keine freien Wahlen. Man musste auf die Straße gehen und für den Umsturz kämpfen. Heute hingegen mag es angebracht sein, für irgendwelche Interessen oder gegen den Bau eines Tiefbahnhofs zu demonstrieren. Auf politische Entscheidungen aber kann man vor allem in Parteien und Parlamenten einwirken. Und ihre Meinung dürfen die Bürger von früh bis spät unters Volk streuen: an jeder Ecke, in jedem Gasthaus, in Versammlungen, in Leserbriefen, in Blogs, bei Twitter, auf Facebook und was uns die digitale Technik sonst noch alles beschert. So ist es. Und auch wieder nicht.

Von Tabus umstellt

Ein Cordon sanitaire von Tabus engt uns ein. Diese Verbote sind nirgendwo festgeschrieben, aber in einer Art Zeitgeist-Verfassung gleichwohl zementiert. Es erfordert Mut, dagegen anzureden. Wer traut sich denn noch, darauf hinzuweisen, dass in unserer Gesellschaft nicht nur Homosexuelle, Bisexuelle, Asexuelle oder Transsexuelle, sondern auch ziemlich viele ganz gewöhnliche Heterosexuelle leben? Oder: Kopfschüttler und Kommentatoren melden sich zu Hauf, wenn man erzählt, dass es sich nicht nur in Patchwork-Familien, sondern ebenso in traditionellen Alt-Ehen ganz gut aushalten lässt. Sehr unbeliebt und böse kritisiert auch der Hinweis, dass Zuwanderer nicht nur Freude bereiten, und dass nicht alle Sprösslinge aus Einwandererfamilien dem Chorknaben-Ideal entsprechen, sondern überdurchschnittlich häufig kriminell sind. So etwas umschreibt man allenfalls mit äußerster Vorsicht, um keine Ressentiments zu wecken. Auch die gebetsmühlenhaft wiederholte Kritik an unserem Schulsystem, das den ärmeren Kindern kaum Chancen bietet, nehmen wir mit masochistischer Lust klaglos hin. Dabei könnten solche Misserfolge nicht nur an der schlimm-schlimmen bundesdeutschen Gesellschaft liegen, sondern auch an desinteressierten Familien, deren Versagen keine noch so gute Schule auszugleichen imstande ist. Fast täglich haben wir auch aus Statistiken, Berichten, Politikerreden zu lernen, wie viel Segen die Einwanderung über uns ausgießt. Otto Normalverbraucher aber schaut auf die Schwierigkeiten der Kommunen und will es nicht so recht glauben.

Würde er sich jedoch nicht nur am Stammtisch oder im anonymen Shitstorm, sondern in aller Öffentlichkeit an solche Fragen kritisch herantrauen, er geriete schnell als rechtslastig in Acht und Bann. So haben eben viele Leute das Gefühl, man dürfe dieses und jenes nicht sagen. Und dann wagen sie es auch nicht. Wie schön also, wenn andere, die wie Neo-Nazis eh schon in Verschiss sind, ihnen das Risiko abnehmen. Man muss nichts sagen, taucht unter in der Masse, trottet ohne viel zu überlegen hinterher. Allerdings wäre dem christlichen Abendland viel mehr geholfen, die Demonstranten würden ihre Schritte in Richtung der sonst so leeren Gotteshäuser lenken. Dort wartet das Christkind auf Anbetung, und es ruft ganz gewiss kein Muezzin zum Gebet.