Wer wie die Engländer seine Vorurteile politisch auslebt, riskiert im Chaos zu landen. Eine Kolumne von Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Neulich, in einer Diskussionsrunde, wo sich ein paar interessierte Leute über Gott und die Welt unterhielten, erlebte ich etwas Exemplarisches. Als das Gespräch eher zufällig auf Israel und die Juden kam, berichtete einer der Disputanten, ein wirklich netter Mensch, von einem verstörenden Ereignis. Ihm war im Verlaufe einer geschäftlichen Verhandlung zum ersten Mal in seinem Leben ein leibhaftiger Jude begegnet. Und siehe, der entpuppte sich als tückisch auf seinen Vorteil bedacht, ganz so, wie man es den Juden immer nachsagt. Das könne doch kein Zufall sein.

 

Ich versuchte dem Mann abzuringen, dass es sicherlich auch Stuttgarter oder Münchner, Christen oder Atheisten mit solchen Eigenschaften gibt. Vergeblich. Der Zufall sei derart eklatant, beharrte mein Gegenüber, dass es kein Zufall sein könne. Offenbar seien die Juden just so wie die Legende behauptet, dass sie seien.

Der Mann war ein Antisemit. Und es bedurfte keines Gutachtens, das zu erkennen. Er hatte ein vorgefasstes Urteil, und er wollte es bestätigt sehen. Für alles, was dagegen sprach, war er blind und taub.

Keine Entscheidung fürs Vereinigte Königreich, sondern fürs kleine England

So ist das nun mal mit Vorurteilen, nicht nur mit dem Antisemitismus, dem europäischen Klassiker dieses Phänomens. Man kann sich dahinter wohlig einrichten und erspart es sich, die Augen aufzumachen, hinzuhören und auch ein bisschen nachzudenken, was bekanntlich sehr anstrengend ist. Wie schön also, wenn einem in komplizierteren Fällen eine vorgefertigte Meinung diese Mühe erspart. Dann weiß man einfach, dass Juden charakterlos, betrügerisch und hinter dem Geld her sind, Muslime zum Terrorismus neigen und die Deutschen, die sich doch seit ihrem Rückfall in die Barbarei so oft zurückhalten, das restliche Europa beherrschen und kujonieren wollen. Die Europäische Union erscheint als eine bösartige Krake, die den armen Nationalstaaten das Blut aus den Adern saugt. Wie viel davon zurückfließt, übersehen die geneigten Antieuropäer großzügig. Vorurteile sind eben nicht nur bequem, sie sind – im Gegensatz zu dem, was angeboren ist und leider auch ziemlich häufig vorkommt – eine Art selbst gewählter Dummheit.

Und da entscheiden sich nun ausgerechnet die Briten, ausgerechnet diese alterprobten Demokraten, diese Spezialisten des Pragmatismus und der Vernunft für eine politische Dummheit von noch gar nicht absehbarer Tragweite. Wer hätte es für möglich gehalten – nicht einmal die englischen Buchmacher und Börsianer wollten darauf wetten -, dass in einer aufgeklärten und gebildeten Gesellschaft derart viele Lügen, Fehlinformationen, Verdrehungen und Verleumdungen geglaubt werden können? Und was wird das erst bei uns auf dem Kontinent auslösen, wo Marine Le Pen, Geert Wilders und die AfD-Leute rumoren?

Doch kaum geschehen, dämmert es etlichen Insulanern, dass sie zwar Großbritannien wieder ganz groß machen wollten, aber womöglich bald in Kleinengland zu Hause sein werden. Nun also der Kater, der Einbruch an den Börsen, weltweit, der Absturz des Pfundes, Angst um den Finanzplatz London, absehbare Jobverluste, viel Augenreiben, dazu eine Petition, die ein zweites Referendum fordert, Schotten, die mit Austritt aus dem United Kingdom drohen, Jugend, die rebelliert und sich von den Alten betrogen fühlt. Spaltung. Ungewissheit über die künftige Regierung. Chaos. Und wo, my goodness, finden wir den Exit aus dem Brexit?

Es ging ums Bauchgefühl

Dabei gab es doch ausreichend Möglichkeiten zu erfahren, was wirklich Sache ist. Aber ganz offensichtlich ging es den Brexitern nicht um die Sache, sondern um ihr Bauchgefühl: um die Sehnsucht nach dem alten Empire, um den Widerwillen gegen zu viel Einwanderung, um die Angst alles Altgewohnte, Heimatliche, Vertraute und damit die eigene Identität zu verlieren.

Das sind starke Gefühle – auch bei uns. Sie machen anfällig für Versprechungen, sie machen blind für die Wirklichkeit, sie machen taub für vernünftige Argumente. Und wenn dann noch ein paar begabte Verführer auftreten – wie Boris Johnson, der den Premier beerben will, und Nigel Farage, der rechte Populist - , wenn auch die Boulevardpresse jubilierend mitspielt, gar den Independance Day ausruft, dann wird es offenbar schwer, mit Vernunft dagegen zu halten. So ist das eben mit den Vorurteilen. Man liebt sie einfach zu sehr und will ja auch auf alle Fälle Recht behalten

Doch jetzt ducken sich die Verantwortlichen erst mal weg. Sie sind nicht länger das Volk. Den Herrn Johnson sieht man gesenkten Hauptes in sein Auto kriechen und Richtung Ferienhaus entschwinden, der Herr Farage gibt zu, dass er nicht halten kann, was er versprochen hat, und der David Cameron, dem das alles zu danken ist, spielt auf Zeit. Wer die Wirklichkeit nicht wahrhaben will, den bestraft das Leben. Aber vielleicht kommt doch alles ganz anders oder eben wie gewohnt: mit europaüblichem Hängen, Würgen und selbsteigener Pein, nicht zum Brexit führend, auch nicht zum Exit aus dem Brexit, allenfalls zu einem leisen, nebelverhangenen Nexit.