In Deutschland darf keiner gegen Migranten, Behinderte, Moslems, Buddhisten, Gentrifizierte und Infizierte, Homos und Heteros sein. Deshalb dürfen auch Freunde der Palästinenser hier nicht ihren Judenhass ausleben – meint unsere Kolumnistin.

Stuttgart - Da haben wir doch, ach, Jahrzehnte lang mit heißem Bemühen die Geschichte studiert, haben Asche auf unser Haupt gestreut, Buße abgeleistet für alles, was im Namen unseres geliebten Vaterlandes den Juden in Deutschland und Europa angetan worden ist. Wir haben Mahnmale geschaffen, eine Verfassung entworfen und treu nach ihr gelebt, die aus den Fehlern von Weimar lernte und inzwischen als beispielhaft gilt in der Welt. Wir haben die historische Sünde des Holocaust zwar nicht bewältigt - weil dieses Grauenvollste unter dem Grauenvollen nicht zu bewältigen ist. Aber wir haben sie nie geleugnet, anders als die Türken, die bis heute nicht den Mut aufbringen, sich zum Völkermord an den Armeniern vor hundert Jahren zu bekennen. Wir hingegen sind mit uns äußerst kritisch ins Gericht gegangen.

 

Wir haben das Vernünftigste getan, was man tun konnte, haben uns die menschenfreundlichsten Regeln gegeben, haben sie an andere Völker weiter gereicht, haben sie praktiziert. Wir haben versucht zu helfen, wo wir helfen konnten. Und nicht zuletzt haben wir uns vorgenommen, niemanden mehr auszugrenzen, den wir für fremd halten oder von dem irgendwelche selbsternannten Weltveränderer uns weismachen wollten oder wollen, dass er – oder sie - fremd sein könnten.

Wo bleibt die Solidarität mit den Juden?

Zugegeben, es hat ein bisschen gedauert, bis wir so weit waren. Aber längst sind wir an diesem Punkt angelangt. Und wer gegen Ausländer, Migranten, Behinderte, Schwarze, Gelbe, Rote, gegen Genderfrauen und Anti-Genderfrauen, gegen Moslems, Buddhisten, Gentrifizierte und Infizierte, Körnchenfresser und Fleischverschlinger, Homos und Heteros, Bisexuelle und Transsexuelle, Entehrte oder Entrechtete zu Felde zieht, den stellen wir – und dies, weiß Gott nicht ohne gehörige Übertreibungen – sofort und unwiderruflich an der Pranger als Faschisten, als Rassisten, als Chauvinisten und Neo-Nationalsozialisten, die unseren gut-gütig dahinfließenden Mainstream in geradezu unanständige Turbulenzen bringen.

Das darf man nicht. Nur eines ist plötzlich wieder möglich: öffentlich gegen die Juden zu hetzen. Auf Deutschlands Straßen! In Verlaufe großer Demonstrationen! Ein Brandsatz fliegt auf die Wuppertaler Synagoge. Parolen werden skandiert wie „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“. Ein harmlos vorübergehender Zeitgenosse mit Kippa auf dem Kopf muss sich als „Scheiß-Jude“ oder „Kindermörder“ beschimpfen lassen. Aber der Protest dagegen hält sich in Grenzen. Allenfalls zweihundert Mutige zeigen sich mal und demonstrieren dagegen. Doch wo ein Sturm losbrechen könnte, macht sich eine seltsame Gelassenheit breit.

Dabei muss der Krieg in Israel und Gaza auch in Teilen unserer Öffentlichkeit als Vorwand für einen alt-neuen Judenhass herhalten. Die Sympathie gilt dabei allemal den Palästinensern und erhält auch publizistisch Unterstützung: wenn etwa in den Abendnachrichten des ZDF das zivile Elend in Gaza gezeigt wird, von der Perfidie der Hamas aber, die Tunnels und Raketenbasen in Wohngebieten und Schulen versteckt, in diesem Beitrag mit keinem Wort die Rede ist. So generiert man Empörung, so werden auch deutsche Straßen zu Vorzeige-Orten eines Opferwandels.

Vorurteile auch in deutschen Wohnzimmern

Doch wer tritt da als Ankläger auf? Es sind vor allem jugendliche Migranten und Leute mit dem entsprechenden Hintergrund. Sie benutzen unsere Städte und gerieren sich – stellvertretend für Palästina – als unter Juden Leidende. Plötzlich treten also ausgerechnet diejenigen als Judenfeinde auf, die von unserer neuen, aus den fürchterlichen Entgleisungen gegen die Juden in der Vergangenheit geborenen Willkommenskultur profitieren dürfen. Es sind Leute, die unsere Toleranz und unsere schöne demokratische Freiheit genießen, um als Dankeschön ihren Judenhass ausgerechnet in Deutschland spazieren zu führen. Da machen sich die Böcke zu Gärtnern.

Aber natürlich kursieren auch in deutschen Wohnzimmern die entsprechenden Vorurteile. Endlich einmal, auch wenn die Wahrheit eine völlig andere ist, erscheinen Juden als Täter und andere Völker als Opfer. Das spült Verdrängtes hoch und hängt sich wonnevoll an den Nahost-Konflikt. Und rechtfertigt es nicht auch ein bisschen die verdammte, die ewig drückende Vergangenheit? Bleibt man vielleicht auch aus solchen Gründen daheim, obwohl man doch sonst so gerne wütend demonstriert – gegen Tiefbahnhöfe oder Genmais und was sich sonst noch so anbietet?

Doch um es mit Angela Merkels NSA-Worten zu sagen: das geht nicht. Das geht gar nicht. Es geht nicht, weil es den von Theodor Herzl vorgedachten Judenstaat, den heutigen Staat Israel, als Fluchtpunkt für die Juden, ohne die von Deutschen initiierte und organisierte Judenvernichtung, niemals gegeben hätte. Es geht nicht, weil dieser Staat mitsamt seinen Menschen, ginge es nach der Hamas, längst wieder von der Landkarte verschwunden wäre. Es geht nicht, weil Gut und Böse in dem auslösenden Nahost-Konflikt nicht so klar aufgeteilt sind, wie es manchen schlichten Gemütern hierzulande erscheint. Vor allem aber geht es nicht, weil die Absage an jeglichen Antisemitismus zu den heiligen Grundlagen unseres Gemeinwesens zählt.