Heribert Schwan, der frühere Ghostwriter Helmut Kohl, setzt der Verachtung des Altkanzlers die Krone auf – meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Im Büro des Bundeskanzlers zu Bonn am Rhein war fast alles noch so, wie es zu Helmut Schmidts Zeiten gewesen war. Die Möbel standen, wo sie zuvor gestanden hatten. Noch immer schmückten die Bilder von Emil Nolde die Wände. Auch die Büste der Tilla Durieux verteidigte ihren alten Platz. Der Mann aber war ein völlig anderer, nicht hamburgisch zugeknöpft, alle Gefühle unterdrückend, knapp und präzise formulierend, sondern offen, von sich, von seiner Politik, seiner Partei und seinem Leben drauf los plaudernd. Ein Gefühlvoller, der die Fragen der Journalistin aus dem Württembergischen auch deshalb gerne beantwortete, weil man sich eben südlich der Main-Linie – so behauptete er – auf eine besondere Weise gut verstehe. Vorsicht, hieß das für mich, dieser Menschenfänger will dich einwickeln. So war es wohl auch.

 

Und auch wieder nicht. Denn Helmut Kohl ist im Verlaufe seiner Kanzlerschaft vieles gewesen. Er hatte sehr unterschiedliche Gesichter. Jetzt, am Ende seiner Möglichkeiten, sehen wir ihn in einem jämmerlichen Zustand im Rollstuhl sitzen, wegen der Spendenaffäre mancherorts verachtet, von etlichen Weggenossen verraten, von einem windigen Journalisten wie Heribert Schwan verkauft und zu alledem einer ehrgeizigen und besitzergreifenden jungen Frau ausgeliefert – genau wie das Seebacher-Opfer Willy Brandt, mit dem er sich über die Parteigrenzen hinweg gut verstand.

Ein Generalist, der mit seinem Unbeholfsein hausieren ging

Anders als jener ist Kohl jedoch nie mit einer Art Heiligenschein in der Politik unterwegs gewesen. Erst einmal nervte er die Nation mit sprachlicher Unbeholfenheit und sachlicher Inkompetenz auf Gipfeltreffen. Das intellektuelle Deutschland verunglimpfte ihn als „Birne“. Kohl gab den Pannenkanzler und „Schrecki“, sein Jugendfreund als Amtschef, machte die Regierungszentrale zum Bermudadreieck, in dem die Akten nicht bearbeitet wurden, sondern verschwanden. Ein veritabler Abstieg war das nach dem brillanten Schmidt-Schnauze, den die Betonköpfe in seiner eigenen Partei abgemeiert hatten. Das Rechthaben war ihnen wichtiger gewesen als das Regieren. Nun also dieser Provinzler. Ein „Generalist“, der mit seinem Mangel auch noch hausieren ging. Da wendeten sich die Intelligenzler, nicht zuletzt die in den Medien, mit Grausen.

Lothar Späth, das „Cleverle“ aus Stuttgart, sollte ihn beerben. Der „Spiegel“ schrieb den Schwaben hoch. Heiner Geißler und Rita Süßmuth zogen die Strippen. Doch anders als der hochfahrende Schmidt hatte Kohl seinen Laden im Griff. Ich sehe noch den überraschend gedemütigten Späth beim Bremer Parteitag von 1989 vor mir. Mit langem Gesicht saß er bei seinen Landsleuten. Nicht einmal mehr zum stellvertretenden Vorsitzenden hatten die Delegierten ihn wiedergewählt. Auch der ewige Kohl-Lästerer Geißler, von seinem Entdecker total rasiert, verlor den Job als Generalsekretär. Da war er baff. Der Chef hatte seine Machttalente unter Beweis gestellt.

Kohl konnte lustvoll gehässig sein

Von da an ging es weiter bergan. Der Kanzler war im Amt gewachsen und begann seine Karriere als Staatsmann. Am Abend des 19. Dezember, bei seinem Besuch in Dresden, war es unübersehbar. Da erlangte er die höchsten Weihen: als die Leute plötzlich zu Tausenden die dunklen Gassen um Schloss und Hofkirche füllten, als sie Fackeln schwenkten, als sie „Deutschland einig Vaterland“ skandierten, als auch uns Journalisten aus dem Westen Tränen in die Augen stiegen und die Stimmung ins Explosive zu kippen drohte. In dieser Stunde, lange vor der ersehnten Wiedervereinigung, hielt Kohl vor der Ruine der Frauenkirche eine Rede, die beides zugleich schaffte: sie besänftigte und verlieh Hoffnung, sie dämpfte den Überschwang und bahnte der abwartenden Vernunft eine Gasse.

Ja, es stimmt: er konnte so lustvoll gehässig sein. Und seine Anwürfe mögen hängen bleiben, gerade weil sie nicht nur aus der Luft gegriffen sind: Wulff eine Null, Thierse mit seinem Volkshochschulhirn und Friedrich Merz, ein politisches Kleinkind. Letzterer hatte sich ja tatsächlich von Angela Merkel aus dem Amt des CDU-Fraktionsvorsitzenden vertreiben lassen. Da ist was dran. Oder auch dieses geradezu Prototypische an einem Wahlkampftag in Thüringen, wo Bernhard Vogel, der aus dem politischen Ruhestand zurück geholte alte Hagestolz und vormals rheinland-pfälzische Kampfgefährte regierte: da hielt der Kanzler, der längst der Kanzler der Einheit war, in einer Gaststätte Hof, stopfte wie ein Kind Unmengen Nachtisch in sich hinein und sang auf den mitreisenden Ministerpräsidenten zeigend: „Ein Vogel wollte Hochzeit machen…“

Irgendwo muss der Frust raus

Helmut Kohl konnte sogar engste Weggefährten von Angesicht zu Angesicht runtermachen. Ist ja auch was Schönes. Und irgendwo muss der Frust doch raus, irgendwo braucht die Anstrengung einen Ausgleich, in diesem Klima des beständigen Angegriffenseins, Sichbehauptens und Sichdurchsetzens. Lästern bedeutet Lust.

Wahrscheinlich jedoch nur für einen Augenblick.

Und nachdem die Äußerungen eines Gedemütigten und Entmachteten mehr als ein Jahrzehnt zurückliegen, sind sie heute nicht so wahnsinnig interessant. Der gängigen, seit der Spendenaffäre wirksamen Kohlverkleinerung setzen sie dennoch ein I-Tüpfelchen auf. Der illoyale Heuchler Heribert Schwan, dem angeblich beim Anblick des Altkanzlers im Rollstuhl die Tränen kommen, schadet mit seinem schon hunderttausendfach verkauften Buch nicht nur dem Ansehen eines bisweilen fehlerhaften, gleichwohl großen Europäers.

Er schädigt auch den Ruf von uns Journalisten.