Die Verfassungsrichter schlagen Kapriolen. Die einen ignorieren, was die anderen entschieden haben.

Stuttgart - Dieser Tage spielte mir meine Fantasie einen Streich. Für mein inneres Auge erfand sie eine kleine Szene, die mir seither nicht aus dem Kopf will. Sie spielt in einer bayerischen Grundschulklasse. An der Wand hängt dort, wie in den anderen Klassenräumen auch, seit gefühlten tausend Jahren ein Kruzifix, weshalb es normalerweise niemandem mehr auffällt.

 

Also sehe ich das christliche Symbol auch in meinem Tagtraum an seinem gewohnten Platz, obwohl es, der Neutralität halber, 1995 vom Bundesverfassungsgericht aus den Klassenzimmern verbannt worden ist, worum sich die Bayern allerdings wenig geschert haben. Nur wenn Schüler oder Lehrer Anstoß nahmen, wurde umgehängt. In meinem kleinen Fantasiefilm tritt nun so ein Anstoßnehmender auf. Am nächsten Morgen nimmt die diensthabende Lehrerin, zufällig eine Muslima mit Kopftuch, den hölzernen Jesus im Auftrag der Schulleitung von seinem Haken. Kopftuch rein, Kreuz raus. Der Unterricht kann beginnen. Ende meines Kopfkinos.

Man hätte auch anders entscheiden können

Noch ist das nicht geschehen. Aber möglich wäre es, seit kürzlich der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts das Tragen des Kopftuches beim Unterrichten erlaubt hat. Rein juristisch scheint das Sinn zu machen. Denn im Falle des Kruzifixes ist der Staat der Akteur, der es aufhängt, obwohl er sich doch jeder religiösen Parteinahme zu enthalten hat. Den Schleier aber wickelt sich die Lehrerin ums Haupt. Er ist Bestandteil ihrer Individualität, ein Beweis ihrer religiösen Freiheit, Wahrnehmung eines Grundrechts. Solange sie nur unterrichtet und nicht missioniert, gibt es keine Einwände. Das meint zumindest der Erste Senat des hohen Gerichts und zwingt nun all jene Bundesländer, die das Kopftuch in der Schule verboten haben, ihre Gesetze zu ändern. Anno 2003 hatte der Zweite Senat noch ganz anders geurteilt und den Ländern Gestaltungsfreiheit gegeben. Offenbar will der Erste Senat nun nicht mehr wissen, was der Zweite einst getan hat. Immerhin gaben bei diesem jüngsten Urteil zwei der acht Richter ein Sondervotum ab. Man hätte also auch anders entscheiden können. Juristisch lässt sich schließlich fast alles begründen.

Wer aber blickt da noch durch? Und worin liegt eigentlich der Unterschied zwischen der staatlichen Handlung, ein Kruzifix an die Wand zu hängen, und dem staatlichen Auftrag, eine Lehrerin vor die Klasse zu stellen? Trotzdem sind wir jetzt endgültig und unwiderruflich an dem Punkt, an dem die Kopftuchfrau grundsätzlich ins Klassenzimmer darf, das Kruzifix jedoch grundsätzlich nicht. Das verstehe, wer will. Für einige sieht es nach Befreiung aus, weshalb eine Kollegin mit Kopftuch in der „Zeit“ „hurra“ ruft. Andere halten die Entscheidung für einen spitzfindig begründeten, vorauseilenden Gehorsam gegenüber Ansprüchen, die mit unseren Werten nicht vereinbar sind.

Aber geht es nicht um die Toleranz gegenüber den Religionen? Von der muslimischen Lehrerin aus gesehen bestimmt. Auf dieses Binnenempfinden hebt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ab. Warum auch immer eine Frau dieses Kleidungsstück trägt, vielleicht um ihrem Gott oder einem Mann zu gefallen, um sich und anderen zu zeigen, wer sie ist und wo sie herkommt, um zu provozieren, um aufzufallen oder um einer Mode zu folgen: sie wird sich im Recht fühlen und diese Toleranz einfordern. So auch hier geschehen im Fall der zwei jungen Frauen, die sich – sicherlich nicht ohne Unterstützung – bis nach Karlsruhe durchgekämpft haben.

Mit dem Kopftuch – eine eingezäunte Person

Eine ganz andere Frage als diese Binnensicht ist die der Außenwirkung – in der Schule, ja überhaupt in staatlichen Einrichtungen. Das Kreuz an der Wand ist ein totes Stück Holz, es ist bayerische oder oberschwäbische Urmaterie, Ausdruck des Glaubens und der Volkskunst, es redet nicht. Von ihm gehen keine unmittelbaren Impulse für den Alltag aus. Die Lehrerin aber wirkt als Person, sie hat Macht und Einfluss. Sie wird gehasst, aber meistens geliebt. Trägt sie ein Kopftuch, so ist das nicht nur Symbol einer Religiosität, sondern auch einer patriarchalischen, mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren Lebensart – selbst wenn sie es aus freien Stücken ums Haupt windet.

Im Prinzip jedoch steht die Verhüllung eben keinesfalls für Selbstentfaltung, sondern für einen Raub an der Persönlichkeit. Sie nimmt Frauen die Freiheit, sich ungeschmälert ihrer Jugend, ihrer Schönheit zu erfreuen, sich den frischen Wind um den Kopf wehen, die Haare flattern zu lassen. Genau dazu ist das Kopftuch erfunden worden. Es macht alle Frauen gleich unauffällig, nimmt ihnen ihre Einzigartigkeit. Die Gattin des schrecklichen sultanesken Supermachos Erdogan sieht sogar aus, als sei nicht nur ein Stück Stoff, sondern ein Modell aus Beton um ihren Kopf gezwungen worden. Eine eingezäunte Person. Für solche Sitten – die Schwimm- und Ausflugsverbote für Mädchen samt Zwangsehen eingerechnet – dürfen nun Lehrerinnen an unseren Schulen Vorbilder sein. Die fundamentalistischen Väter und aufpassenden Brüder können sich die Hände reiben. Da fasst sich sogar Hans-Jürgen Papier, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, an den Kopf und sieht in der Entscheidung der jüngeren Kollegen „nicht die Lösung, sondern die Ursache von Problemen“. Ach, wäre er doch noch im Amt. Mit seinem Einfluss hätte er uns diese emanzipatorisch verbrämte Unterwerfung gewiss erspart.