Fällt Deutschland in der Asylpolitik von einem Extrem ins andere? Und wo bleibt das richtige Maß? Diese Fragen stellt sich unsere Kolumnistin.

Stuttgart - Es war ein wahres Wunder. Wie Phoenix stieg Deutschland aus der Asche des selbst verschuldeten Zweiten Weltkriegs und der Millionen Toten in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern. Erst erdachten große Nachkriegsdemokraten wie Theodor Heuss und Carlo Schmid eine Verfassung, welche die Fehler der Weimarer Vorgängerin für immer ausschließen sollte. Dann blühte, im Westen zumindest, die Wirtschaft auf. Schließlich errang das wiedervereinigte Land wegen seiner maßvollen und menschenfreundlichen Politik noch einmal einen Logenplatz unter den Geachteten der Völker. An diesem Punkt sind wir nun angelangt.

 

Made in Germany, das scheint aufs Neue ein Etikett nicht nur für gute Produkte, sondern auch für den lebenswerten deutschen Alltag und das gute Regieren zu sein. Ein verlässlicher Staat, eine lebendige Zivilgesellschaft, das einflussreichste Land in der Mitte Europas. So beispielhaft steht es da, dass es Hunderttausende von Flüchtlingen anzieht. Am Ende dieses Jahres könnte es gar eine Million sein. Hier dürfen Verfolgte auf eine Zukunft hoffen. Die Frage ist nur: wie lange noch. Denn alles Erarbeitete und alles Erreichte ist in Gefahr. Wenn wir nicht sehr aufpassen, könnten wir bald verlieren, was wir in den letzten siebzig Jahren gewonnen haben. Dabei mag der äußere Friede durchaus gesichert sein, der innere aber ist brüchig. Das Gerüst, das die Väter der Verfassung kunstvoll aufgebaut haben, bekommt Risse.

Auch mancher Helfer stellt sich übers Gesetz

Es beginnt zu wanken, wo Radikalinskis und etliche Mitläufer Polizisten tätlich angreifen, wo linke und rechte Extremisten oder kriminellen Gruppen sie als Bullen beschimpfen, ihre Autos anzünden, Molotowcocktails werfen. Das begann schon zu Joschka Fischers Frankfurter Zeiten und hat sich seither gesteigert. Schon damals kursierte das Missverständnis, die Bundesrepublik sei ein Polizeistaat. Doch das ist sie ja gerade nicht. Sie ist ein Rechtsstaat. Wer aber soll das Recht durchsetzen, wenn Polizisten – wie jetzt im sächsischen Heidenau geschehen - geschmäht, behindert und körperlich verletzt werden?

Allerdings weisen diese Geschehnisse auch über den unmittelbaren Anlass hinaus. Sie bedeuten eine Missachtung der demokratischen Institutionen insgesamt. Und merkwürdigerweise treffen wir nicht nur bei den bösen Buben und Mädchen, bei den Rassisten, den Fremdenhassern, den Flüchtlingsfeinden darauf. Auch ihre Antipoden, die wahrhaft guten Menschen, die Willkommensfreunde und Asylbewahrer, die vorgeblich nur das Beste wollen, missachten die Gesetze und die staatlichen Organe. Auch sie behindern Polizisten und Beamte, wenn diese die rechtmäßig abgelehnten Asylbewerber abschieben wollen, die dann tatsächlich bleiben dürfen. Die Abschiebungsblockierer stellen Ihre Gesinnung über das Gesetz, verstecken abgelehnte Asylbewerber vor den Beauftragten der Behörden. Brave Kirchenleute, zum Beispiel, und doch Gesetzesbrecher. Man stelle sich mal vor, jeder Fromme beanspruche, dass die Regeln seines Glaubens und die Empfindungen seines höchst persönlichen Gewissens den Gesetzesbruch legitimieren.

Nur ein starker Staat kann helfen

Und solche Tendenzen gibt es ja. Wo kämen wir da hin? Und wie sollen, bei den Massen, die hier eintreffen, die wirklich berechtigten Flüchtlinge Platz finden, wenn die unberechtigt Angekommenen nicht gehen müssen, was ja in der Tat der Fall ist? Nur 15 Prozent der rechtskräftig Abzuschiebenden verlassen das Land. Und warum nehmen wir es hin, dass Asylbewerber ihre Ausweise vernichten und ihre Herkunft verschleiern, um nicht abgeschoben zu werden, also gleich beim Eintritt in unser Land eine Straftat begehen? Das ist gerade ein Fortschritt der demokratischen Ordnung, dass sie für alle gleichermaßen gilt, dass jeder nach seiner Façon selig werden kann. Politisches Handeln aber muss allgemein gelten und verantwortet werden. Wo diese Selbstverständlichkeit fehlt, ist die Demokratie in Gefahr. Nur ein starker, seiner Werte bewusster und seine Ressourcen pflegender Staat kann anderen helfen.

Manchmal bedrückt mich der Gedanke, wir Deutschen würden von einem Extrem ins andere fallen. Einst waren wir mit großem Eifer und tiefer Überzeugung der Schrecken Europas . Unser Land zerbrach daran. Jetzt gebärden wir uns als ein Gemeinwesen der großen Güte, Mildtätigkeit und Toleranz. Das ist natürlich eine liebenswerte Variante. Und sie macht uns zu Recht stolz. Aber gefährlich ist sie auch. Wenn etwa der Mainstream der Nächstenliebe bis zu den Verfassungsrichtern hinauf reicht und sie, wie 2014 geschehen, zu dem Urteil veranlasst, jeden Asylbewerber wie einen Hartz IV-Empfänger versorgen zu lassen, dann erbittert das auch manches gutwilligen Bürgers Herz. Denn das ist mehr, als andere Staaten geben. Nicht zuletzt deshalb kommen Flüchtlinge so gerne hierher.

Erst badete Deutschland im Rassenreinheitswahn, jetzt feiern wir unsere herausragende Großzügigkeit. Wie wär’s zur Abwechslung einmal mit Maß und Ziel? Denn im Angesicht des Ansturms hilfsbedürftiger Menschen wird das alles nicht durchzuhalten sein. Die Decke der Zivilisation ist dünn. Die Vorgänge in Sachsen lassen uns ahnen – und die kommenden Landtagswahlen werden es in Zahlen beweisen – was von jenem Deutschland, das wir hinter uns wähnen, unter der wohltätigen Oberfläche noch fröhlich weiter kocht und zerstörerisch hervorbrechen kann.