Seit dem Amoklauf von Winnenden investiert die Stadt Stuttgart viel Geld in bessere Alarmtechnik. Sprachalarmierungs-Anlagen sollen Schülern und Lehrern im Notfall helfen. Doch nur neun Stuttgarter Schulen nahmen an den Amok-Übungen teil.

Stuttgart - An den durchdringenden Intervallton erinnert sich Martin Härer noch gut. Er traf den Vizeschulleiter der Schule für Farbe und Gestaltung in Feuerbach, seine Kollegen und die Schüler mitten im Unterricht. Die Durchsage ließ keinen Zweifel: „Achtung, Gefahrenlage“, tönte es aus den Lautsprechern. Amokalarm! Die Lehrer wussten, was zu tun war. Sie schlossen die Klassenzimmer von innen ab, wie es per Sprachdurchsage angeordnet wurde, kauerten mit den Schülern unter den Tischen – und warteten. Sich still verhalten, Ruhe bewahren, heißt in so einem Fall die Devise. Schülern klarmachen, dass sie nicht kreischen sollen. Nicht jetzt. Und ja nicht aus dem Fenster schauen oder gar aus dem Fenster steigen. An die 30 Minuten habe man gewartet. Erst nachdem Polizisten in Schutzausrüstung mit der Waffe im Anschlag über den Hof kamen und im Schulhaus die Lage gecheckt hatten, konnte die Schulleitung Entwarnung geben.

 

„Die Lehrer waren fix und fertig“, sagt Härer. Dass es sich um einen Fehlalarm gehandelt hatte, von Handwerkern ausgelöst, die am Sprachalarmierungssystem arbeiteten, erfuhren Lehrer und Schüler erst hinterher. Als kurze Zeit später erneut Amokalarm ausgelöst wurde, wieder während des Unterrichts, wieder ein Fehlalarm, durch Handwerker verursacht, beschwerte sich die Schule bei der Schulbürgermeisterin Susanne Eisenmann. Daraufhin durften Arbeiten am Alarmierungssystem nicht mehr während der Unterrichtszeit und ohne Ankündigung erfolgen.

Der Amoklauf von Winnenden erwischte die Schulen kalt

Dass die Stadt Stuttgart ihre Schulen überhaupt alarmtechnisch aufrüstet, ist auf den Amoklauf von Winnenden 2009 zurückzuführen. Seine Flucht hatte den Täter Tim K., der 15 Menschen und sich selbst erschoss, auch durch Stuttgart geführt. Doch die Schulen, aber auch die Kultusbehörden waren auf so einen Fall nicht vorbereitet, weder technisch noch logistisch. Die Pädagogen waren auf sich gestellt.

Inzwischen hat sich viel getan. Es wurden Empfehlungen erarbeitet und Präventionsmaßnahmen entwickelt. Und die Stadt Stuttgart rüstet nach und nach ihre Schulen auf. 16 Millionen Euro werden allein in den Einbau von Sprachalarmierungssystemen gesteckt. 63 der 162 Schulen haben inzwischen solche Anlagen, zehn weitere sollen in diesem Frühjahr in Betrieb gehen. Technik vom Allerfeinsten findet sich in dem 2013 eingeweihten Beruflichen Schulzentrum neben den Wagenhallen im Stuttgarter Norden, in dem die Hedwig-Dohm- und die Alexander-Fleming-Schule untergebracht sind – insgesamt 2400 Schüler und 170 Lehrer.

Im Rektorat von Dieter Göggel, der seit September die Hedwig-Dohm-Schule leitet, befinden sich, wie auch bei seinem Vize und beim Hausmeister, je ein Kästchen für „Hausalarm“ und für „Amokalarm“ – die Betätigung jedes Knopfs löst automatisch ein durchgehendes (Brandfall) oder ein Intervallsignal (Amokfall) sowie Sprachdurchsagen aus. Zudem kann Göggel über ein Schaltpult auch Etagen einzeln ansteuern und persönliche Durchsagen machen.

Leitsystem hilft auch den Einsatzkräften

Es versteht sich von selbst, dass bei dem Neubau alle Räume Lautsprecher haben und die Türen von innen per Drehknopf verriegelt werden können. Der Vorteil: das gehe nicht nur schneller als per Schlüssel, sondern es gehe auch ohne Lehrer, betont Göggel. Im Sekretariat geschieht die Verriegelung der beiden Türen zum Gang sogar auf Knopfdruck. Zugleich fahren die Jalousien herunter: Sichtschutz.

Mit dieser Ausstattung zeigt sich auch Hermann Volkert zufrieden: „Hier sind so ziemlich alle Empfehlungen, die es gab, umgesetzt worden“, stellt der Polizeibeamte vom Referat Prävention fest. Hilfreich sei auch, dass jeder Raum, selbst jede Toilette, mit eigener Nummer beschildert sei und das Schulzentrum ein übersichtliches Leitsystem biete. „So können sich die Einsatzkräfte schnell orientieren“, sagt Volkert. Das ist laut Stadt nicht überall Standard, sondern vor allem bei Neubauten und in großen Schulanlagen.

Doch Technik ist nur das eine. Das Thema muss auch in die Köpfe. Die Abläufe im Krisenfall wollen geübt sein. Inzwischen müsse jede Schule einen Krisenplan mit aktuellen Daten erstellen, der auch den Einsatzkräften vorliegt. Zudem benennt jede Schule ein Krisenteam mit klar verteilten Aufgaben der Lehrer. Auf Fortbildungen werden regelmäßig Vertreter aller Schulen von Polizei, Feuerwehr, Schulpsychologen und Schulverwaltungsamt auf Gefahrenlagen vorbereitet und sollen ihre Erkenntnisse den Kollegen weitergeben.

Nur neun Schulen haben eine Amok-Übung durchgezogen

Während die jährliche Brandschutzübung Pflicht ist, wird eine jährliche Amokübung nur empfohlen, aber ohne Schüler. In Stuttgart hätten dies bisher nur neun Schulen mit Polizeiunterstützung getan, bedauert Volkert. „Wir würden uns wünschen, dass noch mehr weiterführende Schulen das machen.“ Denn: „Jede Schule, an der wir das geübt haben, sagt, es war gut.“ So seien dabei am Königin-Charlotte-Gymnasium Schwachstellen entdeckt worden. Die Lehrer hätten dort in einem Klassenzimmer darauf gewartet, dass die Übung losgeht – vergebens. „Sie haben nichts gehört“, so Volkert. Die Schulleiterin habe festgestellt, dass ihr Telefonkabel im Falle einer Barrikadierung zu kurz sei.

Auch bei der Prävention habe man dazugelernt. Täteranalysen hülfen, Gefährdungszeichen zu erkennen, so Volkert. Sieben „Amoklagen“ bewältigte die Polizei 2013 an Stuttgarter Schulen – mit unterschiedlich konkreten Drohungen, zuletzt kurz vor Weihnachten an der Robert-Koch-Schule in Vaihingen. Oft seien die Ermittlungen Sisyphusarbeit, so Polizeisprecher Stefan Keilbach. Zumal, wenn die Lebensumstände der Verdächtigen untersucht werden müssten. Er betont: „Wir müssen jeden Alarm vollkommen ernst nehmen.“ Den Einsatz stelle man in Rechnung.