Die Genossen werden auf dem Parteitag am Sonntag ihren scheidenden Chef feiern – weil Sigmar Gabriel einsah, dass sie von ihm die Schnauze voll hatten. Im Auswärtigen Amt erfindet sich Gabriel wieder einmal neu. Er macht seine Sache dabei erstaunlich gut. Nur einmal war er bisher ganz der Alte.

Berlin - Sigmar Gabriel und die SPD, das ist schon so eine Sache. Mal lieben sie sich, dann hassen sie sich. Im Moment ist der Himmel über diesem seltsamen Paar wieder rosarot. In seiner Heimat, in Wolfenbüttel, wählten ihn am Mittwochabend von 138 Delegierten 136 zum dritten Mal zum Direktkandidaten für den Bundestag.

 

Die Delegierten und mit ihnen weitere rund 400 SPD-Anhänger feierten ihn, weil er jenem Mann Platz gemacht hat, der ebenfalls nach Wolfenbüttel kam, um seinem Freund Sigmar zu danken und die Einheit der Partei zur Schau zu stellen: Martin Schulz, der am Sonntag in Berlin zum Parteichef gewählt werden soll und als designierter Kanzlerkandidat die Umfragewerte nach oben schießen ließ. „Dass ein Mann in der Lage ist, seine eigenen Ambitionen zurückzustellen im Interesse seiner Parteimitglieder, ist eine außergewöhnliche Charakterstärke“, sagte Schulz. Gabriel wird auf Händen getragen.

Weil er einsah, dass die Partei von ihm die Schnauze voll hatte. Das nämlich ist die bittere Wahrheit. Er weiß das natürlich, ist ja kein Blöder, und so wirkte seine flapsige Reaktion auf all diese Lobhudelei launig und bitter zugleich: „Wenn das mal alles stimmen würde, was ihr über mich sagt . . .“. Es sei, sagte er, „schon komisch, dass ich jetzt den größten Applaus bekomme, wo ich zurücktrete.“

Das mag komisch sein, vor allem aber ist es typisch SPD. Die feiert ihre Vorsitzenden immer zweimal: wenn sie kommen und wenn sie gegangen sind. Dazwischen wird gerungen. Und weil dieses Schicksal, da kann man drauf wetten, eher früher als später auch Martin Schulz ereilen wird, kann sich Gabriel einen ironischen Hieb nicht verkneifen. Er wünsche Schulz „viel Spaß, den Sack Flöhe zusammenzuhalten“.

Ein tragischer Held

Seit 40 Jahren ist Gabriel in der Partei, oft sprach er über die SPD wie über seine Familie, siebeneinhalb Jahre ist er nun ihr Vorsitzender. Das hat vor ihm zuletzt Willy Brandt geschafft, aber mit dem Bundesparteitag am Sonntag ist damit Schluss.

Es sind deshalb emotional gewiss wilde Tage, die Sigmar Gabriel seit Beginn des Jahres durchlebt. Erst führte er seine Partei an der Nase herum, indem er selbst seinem engsten Umfeld gegenüber den Anschein erweckte, als Kanzlerkandidat sein Glück versuchen zu wollen. Dann beförderte er völlig überraschend, entmutigt von den eigenen schlechten Umfragewerten, Martin Schulz in die Position des Herausforderers. Sich selbst sicherte er das Auswärtige Amt, denn einfach so aufhören kann ein Gestaltungssüchtiger, wie er einer ist, nicht.

Kurz sah es so aus, als sei die Partei endgültig fertig mit diesem launigen Niedersachsen, als würde sie ihn am liebsten aussetzen wollen wie ein lästig gewordenes Haustier. Doch dann startete Schulz durch, und mit ihm die SPD. Aus Wut wurde Dankbarkeit und aus Gabriel ein tragischer Held. Seine dritte Tochter kam zur Welt, während im Auswärtigen Amt ohne jede Schonfrist die globalen Krisen Rundumbetreuung forderten. So was muss man erst mal aushalten.

Nicht wenige glaubten deshalb, Gabriel würde sich womöglich gehen lassen oder, schlimmer noch, mit seiner ruppigen Art die deutsche Diplomatie in Verruf bringen. Sind ja schließlich nur noch ein paar Monate bis zur Bundestagswahl, und was aus dem 57-Jährigen danach noch werden kann, ist völlig ungewiss. Aber Gabriel wusste zu überraschen – wieder einmal. Im Auswärtigen Amt staunen sie über seinen Elan, seine Fähigkeit und seinen Willen, sich in Windeseile in komplizierte Sachverhalte einarbeiten zu können.

Bisher hat er alle diplomatischen Gratwanderungen unfallfrei und souverän bewältigt. Er scheint sich nicht nur in die Pflicht nehmen zu lassen, sondern wirkt regelrecht begeistert von der neuen Aufgabe. Für internationale Zusammenhänge hat sich der Mann, der verhandlungssicher Englisch spricht, ja schon immer interessiert. Allerdings bereitete den Diplomaten Sorge, dass er als Wirtschafts- und als Umweltminister auf Auslandsreisen der Versuchung nach schnellen innenpolitischen Geländegewinnen nicht immer hat widerstehen können. Bisher hat sich Gabriel aber zusammengerissen.

Nur einmal blitzte sein unbändiger Vorwärtsdrang auf. Als Kanzlerin Angela Merkel auf der Münchner Sicherheitskonferenz der US-Administration zusicherte, die Verteidigungsausgaben auf der Grundlage von Nato-Zusagen deutlich zu erhöhen, warnte Gabriel postwendend vor einer neuen Aufrüstungsspirale. Es würde ihm sicher das größte Vergnügen bereiten, gegen Merkel und Trump, gemeinsam mit Schulz einen Wahlkampf für Abrüstung und friedliche Konfliktlösung führen zu können. Aber das hat er ja nun nicht mehr zu entscheiden.