Andreas Hiller ist der neue Betriebsseelsorger im evangelischen Kirchenbezirk. Die Stelle war 19 Monate vakant. Dass die Aufgabe nicht leicht ist, geht aus einem Interview mit ihm hervor.

Sindelfingen – - In der evangelischen Kirche sei seine Stelle zumindest in Württemberg einmalig, sagt der neue Böblinger Betriebsseelsorger Andreas Hiller. Sie war seit mehr als eineinhalb Jahre vakant. Mit dem regelmäßigen Leben als Pfarrer ist es bei diesem Job weitgehend vorbei.
Herr Hiller, was motiviert sie, den rauen Arbeitsalltag anderer nachzuempfinden und seelischen Beistand zu leisten? Sie hätten als „normaler“ Pfarrer wohl ein ruhigeres Leben führen können.
Mir hat eine Frau einmal gesagt, sie könne nicht in die Kirche kommen, nicht einmal an Sonntagen, weil sie und ihre Familie so eingespannt seien. Wir müssen als Kirche also auch dorthin gehen, wo die Menschen den überwiegenden Teil ihrer Zeit verbringen: bei der Arbeit. Ein Pfarrer erlebt sehr viel Regelmäßiges in einer Kirchengemeinde. Nach den Sommerferien zum Beispiel beginnen schon die Vorbereitungen für die Advents- und Weihnachtszeit und so weiter, und die Leute kommen in der Regel zu uns. Nachdem ich jetzt 23 Jahre als Gemeindepfarrer tätig war, freue ich mich auf die Aufgabe und die damit verbundenen Herausforderungen.
Welche Erfahrungen sind für Sie da wichtig?
Ich arbeitete eineinhalb Jahre lang mit einer 25-Prozent-Stelle in der Psychiatrie am Krankenhaus Kirchheim/Teck (Kreis Esslingen). Dort hatte ich es auch mit Menschen zu tun, die unter Burnout litten. Oft waren die schwierigen Arbeitsverhältnisse und die daraus resultierenden Lebensumstände die Ursache. Auch Alkoholprobleme spielten eine Rolle. Schon zuvor hatte ich Fortbildungen zum Thema Beratung, Coaching und Seelsorge besucht. Das hat mir geholfen, die Menschen besser zu verstehen und für sie da zu sein.
Welche Ursachen sehen Sie für diese Erkrankungen, die sicher vielfältig sind ?
Eine Ursache sind die wachsenden Anforderungen im Arbeitsleben und der mangelnde Ausgleich. Viele können nicht mehr trennen zwischen Beruf und Privatleben und müssen ständig erreichbar sein. Ein Phänomen ist das so genannte Homeoffice, wenn die Mitarbeiter zu Hause permanent unter Druck stehen, weil sie mit dem Betrieb vernetzt sind. Dieser Druck wird dann irgendwann einmal zu groß. Zuletzt bekommt man nichts mehr richtig auf die Reihe, ob zu Hause oder am Arbeitsplatz. Kleine Herausforderungen werden auf einmal zu riesigen Problemen. Ein Chef sollte akzeptieren, dass es Grenzen gibt und ein richtiger Feierabend wichtig ist. Zumindest zwischen 22 Uhr und 6 Uhr sollten sich die Menschen ausruhen können. Das erfordert Disziplin – von allen Beteiligten.
Sie sind vor zwei Wochen in Ihr Amt eingesetzt worden. Was haben Sie bisher in Ihrer neuen Funktion erlebt?
Es ging gleich richtig los. In der vergangenen Woche war ich auf dem Mercedes-Werksgelände in Sindelfingen bei einer Gewerkschaftskundgebung am Tor sieben. Es ging um Werkverträge und um Leiharbeit. Wir als Betriebsseelsorger treten für die Schaffung und Einhaltung von tarifvertraglichen Arbeitsverhältnissen ein. Da beziehen wir deutlich Stellung. Nicht anders sehe ich es persönlich auch bei dem Arbeitskampf des Warenhauses Real. Am vergangenen Mittwoch war auf dem Böblinger Marktplatz eine Protestkundgebung der Gewerkschaft Verdi. Die Geschäftsführung von Real möchte den Flächentarif durch einen Haustarif ersetzen, was letztendlich eine schlechtere Bezahlung bedeutet. Das Problem bei Streiks im Einzelhandel ist, dass man Mitarbeitende, die streiken, schnell ersetzen kann. Umso wichtiger ist es, dass der Flächentarif einen Schutz bietet für alle Beschäftigten und vergleichbare Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten auch in unterschiedlichen Betrieben schafft.
Haben Sie schon Beratungsgespräche geführt?
Nein. Das liegt sicher auch daran, dass nun eineinhalb Jahre niemand mehr hier war. Die Betriebsseelsorge wurde nach dem Ausscheiden meines Vorgängers, Hartmut Zweigle, ehrenamtlich weitergeführt. Manches konnte dann aber auch nicht stattfinden.
Weshalb war die Stelle des Betriebsseelsorgers 19 Monate lang vakant?
Es hat sich zunächst niemand um die Stelle beworben, sodass eine zweite Ausschreibung nötig war. Bei der ersten dachte ich, es gebe genügend Interessenten, was nicht der Fall war. Ich habe mich erst später beworben.
Woran liegt das mangelnde Interesse?
Zumindest in Württemberg ist die evangelische Betriebsseelsorge in Böblingen einmalig. Die katholische Kirche hat da eine ganz andere Tradition und ist schon lange auf diesem Gebiet engagiert. Das liegt wohl an der katholischen Arbeiterbewegung, die eine lange Tradition hat und die wir Protestanten so nicht haben.
Wer hilft Ihnen, sich in ihrem neuen Arbeitsgebiet zurechtzufinden?
Da möchte ich zuerst Walter Wedl nennen, den katholischen Betriebsseelsorger im Kirchenbezirk Böblingen. Er hat mit mir eine Tour durch den Kreis gemacht und mit mir Firmen besucht, auch um mich dort vorzustellen. Daneben gibt es den Bezirksausschuss für Bezirksseelsorge im evangelischen Kirchenbezirk. Außerdem werde ich Kontakte, die in der Betriebsseelsorge von meinem Vorgänger gepflegt wurden, wieder aufnehmen: mit Gewerkschaften, Unternehmen und Beratungsstellen. Ansonsten setze ich wie mein Vorgänger auf die gute ökumenische Zusammenarbeit.