Als Theaterpädagoge und Regisseur hat der 73-Jährige vier Jahrzehnte lang die Kulturszene der Stadt geprägt. Nun hört er aus gesundheitlichen Gründen auf. Seine letzte Inszenierung ist im Moment in der städtischen Galerie zu sehen.
Sindelfingen - Anders als in den meisten anderen Landkreise gibt es im Kreis Böblingen kein öffentliches Theater, keine professionelle Bühne. Arm an kulturellen Events ist die Region jedoch beileibe nicht. Die Szene lebt von hochambitionierten Amateuren, die professionellen Schauspielern und Regisseuren häufig in nichts nachstehen. Einer von ihnen ist Ulrich von der Mülbe, der in den vergangenen vier Jahrzehnten die lokale Theaterszene geprägt hat wie kaum ein anderer.
Doch nun, nach vier Jahrzehnten leidenschaftlicher Theaterarbeit muss Ulrich von der Mülbe aus gesundheitlichen Gründen von der Bühne abtreten. Froh ist er, dass seine Tochter Annette in seine Fußstapfen tritt. „Sie hat das von der Pike auf gelernt“ und wird die Arbeit des Vaters fortsetzen.
Theater für alle - das war stets das Motto des heute 73-Jährigen. Schauspiel war für den leidenschaftlichen Pädagogen nie ein Selbstzweck, sondern vor allem ein Mittel, Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus, Kulturen und Ländern miteinander zu verbinden.
Die Wurzeln seines sozialen Engagements liegen nicht nur in der 1968er-Bewegung, die er als Student in Heidelberg, Tübingen und Stuttgart mitmachte. Ganz entscheidend prägte ihn sein Schicksal als Flüchtlingsjunge aus Westpreußen. Er war anderthalb, als seine Mutter mit ihm und den zwei älteren Geschwistern die Flucht antrat – und ging dabei auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin verloren. Anderthalb Jahre lebte er in verschiedenen Waisenhäusern, die ausgebombt wurden. „Das ich überlebt habe, ist ein Wunder“, sagt von der Mülbe. Erst als er drei Jahre alt war, habe ihn seine Mutter über den Suchdienst des Roten Kreuzes ausfindig machen können. Anhand der Ohrstellung habe man ihn identifiziert. Ganz sicher, dass er der Gesuchte war, habe man nicht sein können.
„Dieses Schicksal hat mich mein Leben lang begleitet. Es war Ansporn, Menschen zu helfen, denen es nicht so gut geht“, sagt von der Mülbe. Der zweite Strang, der sich durch sein Leben zog, war die Opposition gegen konservative Autoritäten. „Ich stamme aus einer Familie alten preußischen Adels. Mein Vater war Gutsverwalter“, erzählt von der Mülbe. Kennengelernt habe er diesen freilich nie. Der Vater blieb im Krieg, die Mutter und die Kinder flüchteten nach Marburg zur Großmutter. Ein Onkel und ein Cousin hielten die Familientradition hoch. Sie überredeten von der Mülbe nach dem Abitur, zur neu gegründeten Bundeswehr zu gehen. Dort begann der junge Mann seinen Widerstand gegen aus seiner Sicht unsinnige Vorschriften.
Vom Geist der 68er infiziert
Es folgte ein Germanistik- und Philosophiestudium, bei dem der Ex-Soldat vom Geist der Studentenbewegung infiziert wurde. Als junger Referendar geriet er mit dem Rektor seiner Schule aneinander. „Das war noch einer aus der Nazizeit.“ Und als er dann nach Sindelfingen ans Goldberg-Gymnasium kam und mit seinen Schülern Theater spielte, eckte er auch damit wieder bei der Schulleitung an. Das Theater wurde zum Protest gegen die althergebrachte Schultradition. „Erst als die ersten positiven Berichte darüber in der Zeitung standen, änderte der Rektor seine Meinung.“ Die Schule gewann durch das Theater an Profil. Noch heute bereichern viele ehemalige Schüler die lokale und überregionale Kulturszene.
Dies brachte von der Mülbe viel Anerkennung ein. Der Autodidakt, der nie eine Schauspielschule besucht hatte, wurde zu einem Hauptakteur der städtischen Theaterszene. Vier Jahre lang leitete er die Schaubühne, eine von mehreren Theatertruppen der Stadt. Mitte der 1990er Jahre rief er gemeinsam mit Sabine Duffner und Otto Pannewitz das Galerietheater ins Leben. Dort werden anspruchsvolle Stücke mit Bezug zur bildenden Kunst gespielt.
Zum Vollblut-Theaterpädagogen avancierte Ulrich von der Mülbe dann vor neun Jahren, als er als Lehrer in den Ruhestand ging. Von da an konzentrierte er sich auf die Hauptschüler der Stadt und organisierte mehrere interkulturelle Theaterprojekte mit Jugendlichen aus ganz Europa. Der Höhepunkt seiner Karriere war das preisgekrönte Stück „Alte Koffer, neue Träume“, das die Geschichte der Gastarbeiter erzählt. Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen, die zum großen Teil noch nie auf einer Bühne gestanden hatten, wurden zu gefeierten Darstellern. Es folgte gemeinsam mit seiner Tochter Annette das Stadtmusical „Sirenen der Heimat“ – auch dies ein interkulturelles Projekt mit vielen Laien. In den letzten beiden Jahren bestimmten Theaterprojekte mit jungen Flüchtlingen die Arbeit – hier schließt sich für das einstige Flüchtlingskind der Kreis.
Im Moment genießt Ulrich von der Mülbe seine letzte Inszenierung im Galerietheater, ein Sybille-Berg-Stück. Am Freitag feierte es Premiere. Wer noch einmal die Arbeit des Regisseurs Ulrich von der Mülbe erleben möchte, hat dazu bis einschließlich 5. November die Gelegenheit.