Das Mercedes-Werk hat Sindelfingen Wohlstand gebracht. Oberbürgermeister Bernd Vöhringer und der Werksleiter Willi Reiss sprechen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft des Standorts.

Sindelfingen - Dass mit Bernd Vöhringer und Willi Reiss heute zwei Kinder  ehemaliger Daimler-Mitarbeiter die Geschicke der Stadt und des Mercedes-Benz-Werks lenken, mögen manche für Zufall halten. Andere nennen es „typisch Sindelfingen“. Hier hat fast alles und jeder irgendetwas mit „dem Daimler“ zu tun. 100 Jahre alt wird diese symbiotische Beziehung nun. Und ausgerechnet im großen Jubiläumsjahr des Automobilbauers am Standort wird die Partnerschaft von Stadt und Werk wieder einmal empfindlich gestört: durch eine Gewerbesteuer-Rückzahlung inklusive Zinsen in Höhe von 62 Millionen Euro, die die Stadt an das Unternehmen leisten muss und die sie in große finanzielle Nöte bringt. Der Werkleiter Willi Reiss und der Oberbürgermeister Bernd Vöhringer erzählen in einem gemeinsamen Gespräch, wie Stadt und Werk diese und andere Beziehungskrisen meistern.
Herr Vöhringer, am 27. März feierten Sie im Mercedes-Benz-Werk dessen 100-jähriges Bestehen. Kurz danach mussten Sie erfahren, dass die Rückzahlung von Gewerbesteuer an das Werk die Stadt mal wieder an den Rand der Pleite treibt. Hätten Sie mitgefeiert, wenn Sie das zuvor gewusst hätten?
Vöhringer Natürlich, weil: 100 Jahre Mercedes-Benz-Werk Sindelfingen ist etwas ganz Besonderes. Das ist ein Grund zum Feiern. Hier wurde über viele Jahrzehnte etwas ganz Bedeutendes geschaffen. Die Stadt und die Menschen sind dem Werk eng verbunden, es hat uns Wohlstand gebracht. Und die Entwicklung unserer Stadt wäre ohne das Mercedes-Werk nicht denkbar. Und es geht nicht nur um Sindelfingen, sondern um die ganze Region. Weltweit träumen, glaube ich, viele davon, eine solche Struktur zu haben, wie wir sie haben.
Die jetzt anstehende Gewerbesteuer-Rückzahlung trübt nicht die Feierlaune?
Vöhringer Ein wenig schon. Aber ich denke, das muss man trennen. In einer 100-jährigen Beziehung gibt es Höhen und Tiefen. Man muss dabei die große Linie sehen. Vor allen aber: die Zukunftsaussichten sind glänzend. Das Unternehmen investiert erneut in den Standort und baut ihn aus. Auch darum ging es beim Jubiläum.
Herr Reiss, in der Tat war die zukünftige Entwicklung des Standorts Sindelfingen ein zentrales Thema beim Festakt. Sie investieren Milliarden. Was planen Sie konkret?
Reiss Wir haben im vergangenen Jahr ein Zukunftsbild mit Investitionen von 1,5 Milliarden Euro bis 2020 verabschiedet. Damit wird die Fabrik auf ein neues wettbewerbsfähiges Fundament gestellt. Wir bauen einen neuen Karosserierohbau, eine neue Lackierung und eine neue Montage. Im Süden des Werks entsteht zurzeit das neue Logistikzentrum. Da leisten auch der Betriebsrat und die Belegschaft ihren Beitrag. Sindelfingen ist das Kompetenzzentrum unserer Luxus- und Oberklasse. In diesem Fahrzeugsegment sind wir Weltmarktführer und wollen es bleiben.
Investiert wird auch in den Bereich Forschung und Entwicklung.
Reiss Richtig, denn in Sindelfingen entwickeln wir das emissionsfreie, vernetzte und autonome Fahrzeug der Zukunft. Dafür investieren wir im Mercedes-Technology Center Sindelfingen in Summe rund 600 Millionen Euro in neue Großprüfstände sowie Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen, sodass wir insgesamt mehr als zwei Milliarden Euro in den Standort investieren. Das gibt Sindelfingen und der ganzen Region eine sehr gute Perspektive.
Das ist in der Tat sehr viel Geld. Warum ist der Standort Sindelfingen so wichtig für den Daimler-Konzern?
Reiss Der Standort ist einmalig. Er ist in über 100 Jahren kontinuierlich gewachsen. Wir haben im Werk weltweite Zentralfunktionen wie die Produktionsplanung, das Qualitätsmanagement, die Logistik und die neue Technologiefabrik, die für eine effiziente Verzahnung von Entwicklung und Produktion sorgt. Darüber hinaus unterstützen wir mit unserem Personal die Fahrzeuganläufe an anderen Standorten. Dazu kommen die Forschung und die Entwicklung sowie der Einkauf. Dieses geballte Knowhow macht den Standort Sindelfingen so stark und einzigartig.