Nach fast 60 Jahren schließt der Familienbetrieb: Die Lebensmittelkontrolle hatte hohe Investitionen in die Backstube gefordert. Am letzten Tag waren Brezeln und Laugenweckle schnell ausverkauft. Nun gibt es in der Kernstadt nur noch Filialen.

Böblingen: Kathrin Haasis (kat)

Sindelfingen - In der Vitrine liegen nur noch Krümel. Dabei hat die Bäckerei erst seit drei Stunden geöffnet. „Es gibt keine Kringel mehr“, ruft eine Kundin entsetzt, „ich wollte sie doch einfrieren.“ Eine andere Frau bestellt für den Nachmittag gleich 15 Laugenweckle. Und ein älterer Herr nimmt die zwei im Regal übrigen Backhausbrote mit. „Es soll wenigstens über Ostern reichen“, erklärt Lore Ebert die Hamsterkäufe ihrer Kundschaft. Seit 23 Jahren arbeitet sie bei der Bäckerei Großmann im Verkauf, am Dienstag stand sie zum letzten Mal hinter der Verkaufstheke. In dem 1956 gegründeten Familienbetrieb wird der Ofen endgültig ausgemacht. „Es ist sehr traurig, gell?“, sagt die 76-Jährige zu einer Kundin, „können Sie es auch nicht fassen?“

 

Zu viel Aufregung, zu viele Investitionen

Für Gerhard Großmann war es zu viel Aufregung. Die Bäckerei meisterte der 51-Jährige zusammen mit seinem Vater. Bis zum 21. Januar stand Adolf Großmann jeden Morgen in der Backstube. Drei Wochen später erlag der fast 83-Jährige seinem Krebsleiden, einen Monat später starb auch die Mutter. „Ich höre auf, weil es mir gesundheitlich nicht gut geht“, sagt der Sohn, sein Herz macht Probleme. Seit einem Besuch der Lebensmittelkontrolleure Anfang Februar kann er schon nicht mehr arbeiten. „Sie haben ihn drei Stunden lang tyrannisiert“, sagt seine Frau Claudia. Zusätzliche Waschbecken hätte der Bäcker unter anderem in der Backstube installieren sollen, ein Kontrollsystem für die Kühlmöbel und ausgeklügelte Reinigungspläne. Die Vorschriften haben die Mittel des Familienbetriebs überstiegen.

Damit setzt sich das Bäckereiensterben im Kreis Böblingen fort: Während 1995 noch rund 65 backende Betriebe existierten, sind es mittlerweile 24. Erst Anfang Februar hat ebenfalls in Sindelfingen die Bäckerei Schmidt & Fink in der Oberen Vorstadt ihr Geschäft aufgegeben, die Großbäckerei Sehne baut den Laden momentan zu einer ihrer Filialen um. „Die Entwicklung spricht Bände“, findet Eberhard Binder, der Obermeister der Innung im Kreis Böblingen, „Verkaufsstellen gibt es am laufenden Meter in der Kernstadt, aber einen backenden Bäcker nicht mehr.“ In Maichingen und Darmsheim wird der Ofen allerdings weiterhin angeheizt.

Das Handwerk ist ein hartes Geschäft

Sein Handwerk ist ein hartes Geschäft geworden, macht Eberhard Binder an mehreren Punkten deutlich. Der Wettbewerbsdruck habe konstant zugenommen, weil Discounter und Supermärkte ein Stück vom Kuchen haben wollen. Die Kundschaft ballt sich in Einkaufszentren und versorgt sich nicht mehr in der Nachbarschaft mit Lebensmitteln. Die langen Öffnungszeiten erfordern viel Personal, die Vorschriften viel Zeit. Das jüngste Beispiel ist die Allergen-Verordnung, laut der alle Inhaltsstoffe aller Waren schriftlich aufgelistet werden und ausliegen müssen. Und wer seinen Betrieb technisch nicht auf dem aktuellen Standard hält, komme schnell in einen Investitionsstau. „Die Anforderungen sind nach oben geschraubt worden“, sagt Binder, „das ist nicht sinnlos, aber belastend.“

Bei der Bäckerei Großmann haben sich zuweilen lange Schlangen gebildet – wegen der Brezeln und der Laugenweckle. „Mir hat der Beruf Spaß gemacht“, sagt Gerhard Großmann. Und der Umsatz sei in Ordnung gewesen. Rund 50 000 Euro habe er deshalb in die Modernisierung seines Betriebs investiert, aber der Behörde sei es nicht genug gewesen. Die Lebensmittelkontrolleure setzten ihm eine Frist – und Gerhard Großmann machte am letzten Tag Schluss. „Sie haben unser Leben zerstört“, sagt seine Frau Claudia, „aber es ist vorbei jetzt.“ Der angestellte Konditor und ein Bäcker verlieren damit ihre Anstellung sowie vier Teilzeitkräfte. Für die Zukunft hat Gerhard Großmann noch keine Pläne – außer gesund zu werden. „Ich habe gerne da geschafft“, sagt Lore Ebert hinter der leeren Vitrine. Manche Kunden umarmen sie zum Abschied. „Vielleicht sehen wir uns mal in der Stadt“, sagt die 76-Jährige dann.