Zur Halbzeit bei der Ersten Sindelfinger Biennale ziehen Horst Zecha und Frank Martin Widmaier, die beiden Macher des Kulturevents, im Interview eine erste positive Bilanz.

Sindelfingen - Geschichtsbewusstsein und Identifizierung mit ihrer Stadt sind bei den Sindelfingern beim 750-Jahr-Jubiläum vor zwei Jahren enorm gewachsen. Daran knüpft die Erste Sindelfinger Biennale an. Mit neuen Formaten werden historische und aktuelle Themen mit Unterhaltung verbunden. Nun ist der „Sindelfinger Jedermann“ abgespielt. Der Kulturamtsleiter Horst Zecha und der Künstlerische Leiter Frank Martin Widmaier sind sehr zufrieden mit der Resonanz des Publikums. Glück hatten sie auch mit dem Wetter beim Open-Air-Spektakel an der Martinskirche.
Herr Zecha, Herr Widmaier, ist das Experiment Biennale in der Stadt angekommen?
Widmaier Ja, auf jeden Fall. Noch vor vier Wochen konnten wenige Menschen mit dem Begriff Biennale etwas anfangen. Doch jetzt ist sie Stadtgespräch. Man spricht über die Installationen an den Fachwerkhäusern, über die Aufführungen des „Sindelfinger Jedermann“, über die Tanzveranstaltungen und Konzerte. Und sehr viel miteinander in Diskussionen.
Zecha Schön ist es zu beobachten, wie immer wieder Grüppchen stehen blieben und die Kunst in der Stadt betrachten und sich darüber austauschen. Viele nehmen ihre Heimatstadt plötzlich ganz anders wahr.
Wie viele Besucher haben Sie gezählt?
Zecha Die Theateraufführungen des „Sindelfinger Jedermann“ waren alle ausverkauft, auch die Zusatzvorstellung. Diese Vorstellungen und das andere Programm auf der Hauptbühne an der Martinskirche haben gut 5000 Zuschauer gesehen. Wir hatten natürlich auch großes Glück mit dem Wetter. Wobei wir gesagt haben: Wir spielen auch bei Regen. Zum Glück war es nur ein Mal der Fall, dass es tröpfelte.
Widmaier Auch das Zusatzprogramm war gut besucht: Jeweils bis zu 150 Teilnehmern haben wir bei den Einführungen zum Theater, 25 bis 80 machen immer bei den Führungen zur Altstadtkunst mit.
Und wie ist die Resonanz der Besucher?
Zecha Die Resonanz ist ganz überwiegend positiv. Es gibt aber natürlich auch einige kritische Stimmen, die zum Beispiel mit der Veränderung an den Fachwerkbauten nicht zufrieden sind. Aber auch das zeigt, dass die Projekte Aufmerksamkeit erregen.
Das ganze Programm war mit ziemlich heißer Nadel gestrickt. Wäre mehr Vorbereitungszeit nicht besser gewesen?
Widmaier Mit mehr Zeit hätte es besser aber auch schlechter werden können. Die vielen Schauspieler, die das ja alles ehrenamtlich machen, die hätte ich nicht länger einspannen können. Die haben alle einen Hauptberuf und viel Freizeit und Begeisterung investiert, damit so ein Ergebnis möglich war. Für uns wäre eine längere Vorlaufzeit aber sicher entspannter gewesen.
Gab es auch einen Flop, eine Veranstaltung, die gar nicht ankam?
Zecha Bisher nicht. Und ich denke, dass auch das weitere Programm sein Publikum finden wird.
Widmaier Es wurde alles angenommen – ob Diskussion, Stadtführung oder Theater. Wir werden am Ende eine Gesamtauslastung von über 95 Prozent haben. Das ist traumhaft. Zu einem Diskursthema bis zu 60 Menschen im Propsteigarten ist mehr, als zu erwarten war. Bei der Eröffnung der Altstadt-Kunst hatten wir mit 90 Teilnehmern gerechnet, es waren dann über 200.
Wären weniger Veranstaltungen nicht mehr gewesen?
Widmaier Nein, ganz im Gegenteil: weniger wäre in diesem Fall weniger gewesen. Genau das macht ja unser Programm aus. Diese drei Säulen mit Theater, Tanz, Musik auf der Hauptbühne, Bildender Kunst in der Altstadt und dem Diskurs. Viele Besucher sind spontan länger geblieben, weil sie dann doch neugierig waren, was es außer dem „Jedermann“ noch zu erleben gibt. Wir wollen eben kein beliebiges Programm, wie man es überall bekommt. Unser Alleinstellungsmerkmal ist der enge Bezug zur Stadtgeschichte und zu Themen, die existenziell sind, wie die Suche nach Identität, die Frage nach Heimat, unsere Stellung in der technologisch geprägten Welt. Besonders in unseren Aufführungen wurden Emotionen ausgelöst: Das Publikum wird mit Gewissensentscheidungen konfrontiert und erkennt sich selbst mit Konflikten und Entscheidungszwängen. Das Programm will eben mehr als bloße Unterhaltung. Es ist anspruchsvoll. Wir regen inhaltliche Diskussionen in der Stadt an.
Das wollen die Leute?
Widmaier Ja, es gab immer wieder Stimmen, die sagten: Kultur geht in Sindelfingen nicht. Die Leute wollen nur Bier und Bude. Aber wir beobachten, dass sie sich selbstverständlich mit Geschichte und Leben auseinandersetzen. Sonst würden nicht so viele zu den Einführungsveranstaltungen des Theaters und der Konzerte kommen und gezielt Fragen stellen. Gelungen ist uns auch, was mir sehr wichtig ist, viele junge Leute aus der Stadt für Kultur zu interessieren und in die ehrenamtliche Organisation und Kommunikation einzubinden. Aber auch ganze Familien besuchten unsere Veranstaltungen. So haben wir viele neue Gesichter, vor und hinter der Bühne, gewinnen können.
Zecha Die Biennale passt auch in unsere langjährige Veranstaltungskonzeption. Wir suchen immer wieder ungewöhnliche Orte für die Kultur. Denken Sie an den Herrenwäldlesberg. Oder die Veranstaltungen während des Stadtjubiläums im Sommerhofenpark und auf dem Marktplatz. Da schließt sich die Biennale an. Und auch das macht unser Programm so besonders. Es ermöglicht einen neuen Blick auf altbekannte Orte in der Stadt.
Also ist das Programm speziell für die Sindelfinger?
Widmaier Mein Anspruch war, auch Menschen über die Stadt hinaus zu erreichen, und das ist zumindest teilweise gelungen. Sowohl bei unseren Schauspielern als auch beim Publikum haben wir Menschen, die kommen vom Gäu bis nach Leonberg. Ich bekomme Rückmeldungen aus der ganzen Region, auch aus Stuttgart. Wir werden wahrgenommen. Das wird das einseitige Image Sindelfingens erfreulich verändern. Unser Programm ist zwar zugeschnitten auf die Sindelfinger Geschichte, aber dann doch so allgemein, dass es auch andere interessiert. Bestimmte Erkenntnisse werden hier lokal verortet und angebunden, bedeutsam sind sie aber überall.
Dann steht eine Wiederholung der Biennale in zwei Jahren fest?
Widmaier Wir haben viele Ideen und Angebote von Kulturschaffenden und stehen bereit. Aber das ist eine politische Entscheidung, die der Gemeinderat treffen muss. Das liegt nicht in unserer Hand.
Zecha Wir haben gesagt, wir probieren das aus und schauen es uns dann an. Das wird im Herbst geschehen, wenn alle Veranstaltungen vorbei sind. Dann sieht man weiter.
Was würden Sie beim nächsten Mal anders machen?
Widmaier Ein nächstes Mal würde automatisch anders. Personelle Strukturen, die sich bewährt haben, könnten dann langfristiger geplant werden. Und inhaltlich sollte ja sowieso immer vieles neu und überraschend sein. Das ist Konzept.
Zecha Natürlich gibt es bei einem neuen Format verschiedene Dinge, die man noch verbessern kann – so war zum Beispiel die Abstimmungszeit zwischen Technik und Regie im Vorfeld der „Jedermann“-Aufführungen sehr knapp, daraus können wir lernen. Grundsätzlich fände ich es schön, wenn es uns gelänge, noch mehr Sindelfinger Akteure, beispielsweise auch Schulen, als Mitwirkende zu gewinnen. Dabei würde sicher eine längere Vorbereitungszeit helfen, als wir sie dieses Mal hatten.