In der nordenglischen Stadt Rotherham sind in den vergangenen 16 Jahren 1400 Kinder sexuell missbraucht worden, meist von spezialisierten pakistanischen Banden. Polizei und Stadtrat blieben all die Jahre untätig.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

Rotherham - Wie ein Blitz hat ein neuer Bericht über Kindesmissbrauch in der britischen Öffentlichkeit eingeschlagen. Die Enthüllungen, die sich auf die nordenglische Stadt Rotherham konzentrieren, sprechen von mindestens 1400 Minderjährigen, die dort in den vergangenen 16 Jahren von kriminellen Banden geködert, bedroht, vergewaltigt und in umliegende Orte geschleust wurden. Von Politikern und Polizisten, die nichts von der Sache wissen wollten, ist in dem Bericht die Rede. Von Kindern, denen niemand Glauben schenken mochte. Von Eltern, die verhaftet wurden, als sie versuchten, ihre Kinder zu retten. Von Jugendamts- und Sozialarbeitern, deren Warnungen man in den Wind schlug.

 

Inzwischen, da das riesige Ausmaß des Missbrauchs feststeht, befürchten Experten, dass es sich bei Rotherham nur um die Spitze des Eisbergs handelt. Am Mittwoch forderten Parlamentsabgeordnete deshalb verschärfte Nachforschungen in allen möglichen Teilen Englands zur Frage von Kindesmissbrauch. Sämtliche Verwaltungs- und Polizeichefs, die vor den unglaublichen Ereignissen in Rotherham die Augen geschlossen hätten, müssten aus ihren Ämtern entfernt werden, hieß es.

Die meisten Opfer sind arm und weiß

Bisher ist nur der Ratsvorsitzende der Stadt, Roger Stone, zurückgetreten. Er bezeichnete die Ereignisse als „historisch“. Sein Gemeinderat hatte im Oktober 2013 die unabhängige Untersuchung in Auftrag gegeben. Zuvor waren fünf Männer verurteilt worden, weil sie minderjährige Mädchen in die Prostitution vermittelt hatten. Der Bericht der schottischen Professorin und Sozialarbeitsspezialistin Alexis Jay deckt nun einen Abgrund auf: Verbrechen, die von 1997 bis in die Gegenwart hinein reichten – und deren Vertuschung.

Wie sich herausstellte, waren in Rotherham Minderjährige – manche nicht älter als elf Jahre – systematisch sexuell missbraucht und oft wie Ware auswärtigen Kunden zugeschoben worden. Bei den Opfern handelte es sich meist um Kinder aus kaputten Ehen oder aus ärmlichen Verhältnissen, die sich nicht zu wehren wussten. Die Täter waren in der Regel örtliche Gruppen von Männern pakistanischer Herkunft. Eine ganze Reihe solcher Gangs soll an dem „Missbrauchsgeschäft“ beteiligt gewesen sein. Die Täter lockten, wie man jetzt weiß, ihre Opfer oft vor Schultoren mit kleinen Geschenken wie Mobiltelefonen in wartende Wagen. Sie fuhren sie an abgelegene Orte und bedrohten, missbrauchten und vergewaltigten sie. Ein Kind berichtete später, dass man es mit Benzin übergossen und ihm gedroht hatte, es „abzufackeln“. Andere Opfer wurden geschlagen. Gruppenvergewaltigung war keine Seltenheit.

Kinder, die man sich bereits „herangezogen“ hatte, wurden häufig in Taxis abgeholt. Sie wurden auch Banden in anderen Orten zugeschoben. Einige erhielten ein Taschengeld für ihre sexuellen Dienste. „Es ist unbeschreiblich, wie entsetzlich die Taten waren, die die Kinder erlitten haben“, schreibt Jay. Zum Schweigen brachten die Täter unwillige Opfer mit allerlei Drohungen. Man werde, falls sie etwas erzählten, sich auch ihre jüngeren Geschwister schnappen, hieß es. In mehreren Fällen wurden ganze Familien eingeschüchtert, Fenster eingeschlagen, drohende Anrufe gemacht. Auch mit Fotos erpressten die Männer ihre jungen Opfer. Viele der Opfer, so fand die Berichterstatterin Alexis Jay heraus, endeten in Kinderheimen, in Entzugsanstalten oder in sozialer Fürsorge. Etliche wurden von der Polizei aufgelesen und wegen Trunkenheit oder „unordentlichem Benehmen“ zeitweise inhaftiert.

Die Täter sind pakistanische Kriminelle

Der Ursache dieser Vorfälle versuchte die Polizei allerdings nicht auf die Spur zu kommen. Statt die Sache aufzuklären, taten Polizisten gelegentliche Klagen von Kindern pauschal ab. Zweimal, als Väter ihre Töchter aus dem Gewahrsam einer Bande zu befreien versuchten, riefen die Täter frech die Polizei zu Hilfe – die die betreffenden Väter abführte, wegen Hausfriedensbruchs. Die Polizei von Süd-Yorkshire, heißt es dazu im Jay-Bericht, sei den häufig verwahrlosten Kindern schlicht „mit Verachtung begegnet“. Polizeichefs hätten Meldungen ihrer Untergebenen erst unterdrückt und später ignoriert. Vertreter der Sozialbehörde und Gemeinderatsmitglieder in Rotherham hätten beunruhigte Sozialarbeiter ebenfalls angewiesen, die Sache nicht allzu ernst zu nehmen. Eine rebellische Mitarbeiterin wurde offenbar suspendiert und versetzt. Immer wieder scheinen die Verantwortlichen in Rotherham vor einer Aufklärung der Affäre schon deshalb zurückgescheut zu haben, weil die meisten Täter pakistanischen Ursprungs waren. Beschuldigungen in dieser Richtung, fürchtete man, würden dem Rat als Rassismus ausgelegt.

Die Behörden fürchteten den Rassismus-Vorwurf

Unruhe hatte es bereits gegeben, als der stellvertretende Gemeinderatsvorsitzende Jahangir Akhtar im Sommer 2013 zurücktreten musste, weil ihm vorgeworfen wurde, vom Verhältnis eines mutmaßlichen Sexualstraftäters mit einem Heimmädchen gewusst zu haben. Der Bürgermeister von Rotherham, Barry Dodson, war erst im Juli 2014 abgetreten, als er beschuldigt wurde, in den achtziger Jahren ein 13-jähriges Mädchen sexuell missbraucht zu haben.

Viele der Fälle waren bekannt

Sabotiert wurden auch Versuche der Presse, Licht ins Dunkel zu tragen. Gegen eine im Jahr 2010 geplante Veröffentlichung der Londoner „Times“ erwirkte der Stadtrat eine gerichtliche Verfügung. Die Zeitung, hieß es in Rotherham, wolle „ja nur auf Rotherham herumhacken“. Von einem „himmelschreienden kollektiven Versagen“ der Verantwortlichen hat Jay in ihrem abschließenden Verdikt gesprochen. Jetzt sollen auch Fälle in Oldham, Rochdale, Leeds, Derby, Oxford und anderen Städten eingehender als bisher untersucht werden. Dieser Blitz hat das sommerliche England ordentlich erwischt.