Das „Inzest-Tagebuch“ einer anonymen US-Autorin wird als Skandalroman des Jahres vermarktet. Eine Frau um die vierzig protokolliert darin, wie sie als Kind und Jugendliche von ihrem Vater missbraucht wurde und behauptet, dass sie beim Missbrauch Begierde empfunden hätte.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Stuttgart - Es gibt Bücher, die tun weh. Bücher, die jemand, der ein sanftes Gemüt hat und schwache Nerven, niemals zur Hand nehmen sollte. Ein solches Buch ist das „Inzest-Tagebuch“ einer anonymen amerikanischen Autorin. Erschienen ist es zuerst bei dem renommierten Verlag Farrar, Straus and Giroux und war dann auf der vergangenen Frankfurter Buchmesse eine der internationalen Neuerscheinungen, um die am meisten Wind gemacht wurde. Die Übersetzungsrechte wurden hoch gehandelt, die „New York Times“ besprach es ausführlich.

 

Nun hat Klett-Cotta „Das Inzest-Tagebuch“ auf Deutsch veröffentlicht. Eine Frau um die vierzig protokolliert darin, wie sie als Kind und Jugendliche von ihrem Vater missbraucht wurde. Das Skandalöse an dem schmalen Buch ist die Lust, die die Protagonistin ausschweifend beschreibt: Was sie beim Missbrauch empfindet, ist Begierde. Alles, was das junge Mädchen mit Sex verbindet, steht in Zusammenhang mit seinem Vater, immer und jederzeit. Es ist ein Netz, in dem sie gefangen ist, und dem sie selbst als Erwachsene in späteren Beziehungen nicht entkommt. In Rückblicken und kurz gefassten Eindrücken schildert die Autorin in einem emotionslosen Filmskriptparlando, was all die Jahre geschehen ist. Wie ihre depressive Mutter, ihr Bruder und ihre Großeltern nichts von all dem sehen wollten. Sie schildert die Erfahrungen der Kindheit, das Ferienhaus am Strand, das Baumhaus, das der Vater für das kleine Mädchen baut, wie er ihm die Haare bürstet. Zugleich geschieht in dieser Welt heimlich kranker Sex, beschrieben in brutalster, verstörender Explizität. Die Erzählerin resümiert: „Der Sex mit meinem Vater hat mich zur Waise gemacht.“

Frauen, die sich „freischreiben“, im Mittelpunkt

In der Ambivalenz der verständlicherweise gestörten Sexualität einer Frau, die seit ihrem dritten Lebensjahr missbraucht wurde, gerät diese Geschichte mehr und mehr zu einem nervtötenden Pädophilenporno à la Marquis de Sade. Mit vollem Ernst bekommt der Leser darin Sätze serviert, wie: „Ich wollte seinen großen harten Schwanz ganz tief in mir.“

Für wie authentisch kann man ein aus Versatzstücken mittelmäßiger Hausgebrauchspornos zusammengebautes Dokument halten? Wieso kann eine Geschichte wie diese, die einen so ungewöhnlichen Blickwinkel einnimmt und etwas derart Ungehöriges schildert, nicht authentischer von Sex erzählen? Spielt es überhaupt eine Rolle, ob die Geschichte glaubwürdig ist oder nicht?

Alle reden zurzeit über Skandalgeschichten unserer Zeit, die von Frauen geschrieben werden: Frauen, die sich „frei schreiben“, wie die US-Autorin und Fernsehschauspielerin Lena Dunham in ihrer Serie „Girls“ und ihrem Buch „Not that kind of girl“. Oder hierzulande Margarete Stokowski mit ihrem Debütroman „Untenrum frei“. An diesen Debatten kommt in der Buchbranche niemand mehr vorbei. Sex und Frauen, Gewalt, Begehren und Identität, das wollen die Verlage jetzt drucken.

Doch ganz so einfach ist es nicht, diesem Diskurs etwas von Belang hinzuzufügen. „Das Inzest-Tagebuch“ ist literarisch betrachtet kein Gewinn, höchstens eine Skizze. Das Stück verschenkt vieles, scheint die Komplexität seines eigentlichen Anspruches, authentisch über weibliche Lust und Identität nach Gewalterfahrungen zu sprechen, selbst nicht recht greifen zu können. Interessant bleibt einzig die schwierige Rolle des Lesers: In voyeuristisches Zuschauen gedrängt soll er wie reagieren? Abgestoßen sein, zweifeln, Mitleid empfinden, hinschauen? Eine Zumutung in jedem Fall.

Lebensweisheiten einer Amateur-Psychologin

Der Versuch, den brutalen Pornobeschreibungen etwas von Substanz an die Seite zu stellen, misslingt durchgehend. Die Engführung von Krieg, Gewalt und Lust beispielsweise, als die Protagonistin Fernando Boteros Gemälde der Gefangenen von Abu Ghraib betrachtet, gerät plump. So auch ihre Selbstreflexion über Begierden: „Ist es das gleiche, wie bei den Vietnam-Veteranen, die es erregt, wenn sie sich über Gewalttaten während des Krieges unterhalten?“ Die Spiegelung der Inzesterfahrung in ihrer späteren Affäre mit einem älteren chilenischen Familienvater wird allzu offensichtlich in Einzelteile zerlegt: „Was die kleine Amerikanerin damals in Chile nicht gesehen hatte, war nämlich, dass sie genau das gleiche tat wie immer.“ Und die Lebensweisheiten der Amateur-Psychologin sind ernüchternd: „Immer dreht sich alles um Sex. Hat man welchen, steht er im Zentrum. Hat man keinen, steht er auch im Zentrum.“

Das ambivalente weibliche Begehren, die Abgründe, in die sich Sexualität bisweilen begeben kann – all das wird dem Leser serviert wie Popcorn. Hält man das Buch für das Protokoll sexueller Störung aufgrund von Missbrauchserfahrungen ist beinahe jeder Satz unerträglich, tut fast körperlich weh. Betrachtet man es als Fiktion und Literatur, fehlt ganz entscheidend ein gewisses Maß an literarischer Qualität.

Anonyma: Das Inzest-Tagebuch. Aus dem Amerikanischen von Christa Schuenke. Klett-Cotta, 142 Seiten, 17 Euro.