Die „Gaskammer“ war ein versiffter Tunnel unter dem Kleinen Schlossplatz, dann kam der „Nuttenpark, eine Skate-Anlage mitten im Rotlicht- und Drogenviertel. Über die Anfänge der Stuttgarter Skateboard-Szene.

Stuttgart - Am 14. Juni 2001 ist ein stillgelegter dreckiger Tunnel auf dem Gipfel seiner Berühmtheit. An jenem Tag macht eine Gruppe amerikanischer Profi-Skater um die Stars Chad Muska und Jamie Thomas auf ihrer Europa-Tour Halt in Stuttgart. Im alten Autotunnel unter dem Kleinen Schlossplatz warten 2000 Jungs, die sie wie hysterische Mädchen bei einem Boygroup-Konzert in die Röhre drängen.

 

Die Fans lassen den Profis fast keinen Raum, um ihre Kunststücke vorzuführen. Sie gieren nach Autogrammen, strecken Muska und Thomas ihre Bretter entgegen, bedrängen vor allem Muska so lange, bis er sich draußen auf ein Autodach flüchtet und schließlich ganz vor der Horde junger Skater davonrennt. „Keiner hatte erwartet, dass hier die halbe Ostalb in Bussen anrückt“, erinnert sich erinnert sich Markus Hoch, Skateboarder seit 1986, heute 41 Jahre alt.

Als vor 16 Jahren die Nachricht vom ersten Skatepark in der Stadt die Runde macht, halten das einige Skater für einen Witz. Sie brauchen ja keinen Luxus, ihr Spielplatz ist die Straße – aber ein stillgelegter Autotunnel, berüchtigt als Refugium für Fixer und Obdachlose, Uringestank und Abgase inbegriffen? In einem Tunnel direkt daneben brausen Autos im Sekundentakt vorbei, nur ein Gitter trennt die Jugendlichen vom Verkehr. Ihren Skatepark nennen sie „Die Gaskammer“.

In einem Dokumentarfilm über den Kleiner Schlossplatz schaut Oberbürgermeister Wolfgang Schuster sichtlich unwohl in die Kamera: „Ich weiß gar nicht, wer auf die Idee kam zu sagen: Wir bieten den Jugendlichen den Tunnel an. Ich persönlich hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn die da unten rumgeturnt sind.“

Die Skater-Welle schwappt nach Deutschland

Ende der Neunziger reitet der Sport auf vier Rollen nicht nur weltweit, sondern auch in Deutschland auf einer Riesenwelle. Stuttgart hat die größte Szene in der Republik, doch im Gegensatz zu anderen Städten keinen Skatepark. Lange Zeit fahren die Jungs ausschließlich über öffentliche Plätze, wo die Polizei sie wegen Bürgerbeschwerden immer wieder wegschickt.

Um die „Gaskammer“ mit Rampen und Hindernissen zu bestücken, erhalten die Jugendlichen 5000 Mark. Sie machen das Beste daraus, schleppen Sofas vom Sperrmüll an, um drüber zu springen. Graffiti-Künstler dürfen die Wände verschönern. Aus grau und dreckig wird bunt und dreckig – eine neue „Hall of Fame“, diesen Namen wünscht sich die Stadt für die Anlage. Er setzt sich nicht durch.

„Alle fragten sich, wie das werden soll“, sagt Markus Hoch. Die ausgefallene Variante mit dem Bordstein und dem rauem Belag bleibt doch mehr Straße als Park. Eine abschüssige zudem. „Und der Gestank war fürchterlich.“ Skepsis und Euphorie liegen nah beieinander. „Es war sehr urban, hatte eine raue Seite“, sagt Hoch. Vor äußeren Einblicken geschützt, tauchen immer wieder Gangs auf, die Stress suchen.

Manche nennen den Tunnel ein stinkendes Drecksloch. Für andere, wie den Skater Ed Braun, ist es die Welt. „Es war schon verrückt, alles schwarz-rußig.“ Braun, 35, trägt ein Slayer-T-Shirt, Mütze und weite Jeans: „Wenn es schwül war oder geregnet hatte, konnte man nicht skaten, weil der Belag total rutschig war.“ Wer es dennoch versucht, ist bald von oben bis unten schwarz. Und Wunden entzünden sich da unten ziemlich schnell.

Subkultur in der „Gaskammer“

Braun macht 1999 eine Ausbildung. Unter der Woche bleibt keine Zeit für sein Hobby. Aber Freitagabends rennt er gleich nach Hause und packt seinen Rucksack: Handtuch, frische Shirts, eine Flasche Wasser. „Ich wusste, ich komme erst Sonntagabend wieder heim. Ich gehörte in diesen Tunnel wie eine Ratte zur Straße.“

Die „Gaskammer“ wird Treffpunkt für eine ganze Subkultur. Die Kunde vom neuen Skatepark im Tunnel verbreitet sich bald über die Grenzen der Stadt hinaus. Die Fixer verschwinden, Graffiti-Sprüher aus ganz Deutschland reisen an, um sich an den Wänden zu verewigen. Die Stuttgarter Hip-Hop-Szene trifft sich auch hier. Es strömt zusammen, was zusammen gehört.

Als Phil Anderson das erste Mal im Tunnel steht, ist er zwölf. Damals lebt er in Böblingen, wo er mit Freunden Inlineskates fährt. „Irgendwann erzählte uns jemand von diesem Ort mitten in Stuttgart. Es hieß, dort könnte man legal sprühen und skaten“, erinnert er sich. Das müssen die Jugendlichen unbedingt sehen. Sie steigen in die S-Bahn Richtung Stuttgart. „Das war der krasse Gegensatz zu Böblingen. Mich faszinierte, wie das alles harmonierte.“ Anderson tauscht die Inlineskates gegen ein Skateboard, verbringt ganze Tage in der Gaskammer. Er will nur skaten. Der Tunnel ist so was wie die Wiege seiner Sportlerkarriere, auch wenn Skater sich selten als Sportler bezeichnen.

Ghetto-Flair in der durchkommerzialisierten City

Heute ist Phil Anderson 28 Jahre alt. Auf dem Brett steht er immer noch. In der Szene hat er einen Namen. Ein bekannter Sportartikelhersteller und ein Stuttgarter Skate-Shop sponsern ihn. Davon leben kann er nicht, doch wenigstens muss er für seine Reisen und Klamotten kein Geld ausgeben. Er sitzt mit seinem Skateboard auf der Treppe am Schlossplatz und lächelt, als er die Erinnerungen noch mal aus dem Gedächtnis kramt. Vor ihm das eilig wuselige Treiben auf der Königstraße, hinter ihm das Kunstmuseum. Hier lag einst der Eingang zu einem Ort, der ein paar Jahre lang ein bisschen Ghetto-Flair in die durchkommerzialisierte City brachte. „Ein bisschen Berlin“, sagt Anderson.

Als im März 2002 die Bagger anrücken, ist die Trauer groß, obwohl der Ersatz für die „Gaskammer“ fast fertig ist. Ausgerechnet im Leonhardsviertel an der Pfarrstraße, also mitten im Stuttgarter Rotlichtbezirk, steht er. Samt Bolzplatz und neuer Begrünung ist der Park Teil des Stadterneuerungskonzepts. Heroinspritzen, zwielichtige Gestalten und Prostituierte gehören auch zum Gesamtpaket. Die Jugendlichen taufen die Anlage „Nuttenpark“.

Seit sechs Jahren ist das „Plaza“ die erste Skater-Adresse

Dass sich in die öffentliche Toilette am Parkrand Freier und Prostituierte zurückziehen oder Junkies, die sich einen Schuss setzen, während daneben Jugendliche Skateboard fahren, beängstigt nicht nur Eltern. Vielen Skatern gefällt der Park nicht, weil er zu abschüssig ist. Er wird nie wirklich angenommen.

Heute ist die Toilette verschwunden, Abfall und Glasscherben liegen immer noch herum, die Anlage ist oft verwaist. Die meisten Skater zieht es in den 2009 gebauten Skatepark am Pragfriedhof. Lange haben sie für den Bau gekämpft, eine Petition gestartet und demonstriert. Aus der Vergangenheit haben sie gelernt. Wenn es Probleme gibt, die Stadt Öffnungszeiten verkürzt oder die Technik streikt, protestieren sie, sammeln Unterschriften.

Und auch bei der Stadt dürfte angekommen sein, dass es sich bei Skateboardern nicht um Kinder handelt, die einen Bolzplatz brauchen. Plätze wie die „Gaskammer“ mögen Orte sein, an denen Legenden entstehen, aber Grundschüler, Jugendliche und 40-Jährige möchten ihren Sport weder in sozialen Brennpunkten ausüben noch ihre Gesundheit gefährden. Nach rund einer Dekade Diskussionen und Planungen ist mit dem „Skateplaza“ am Pragfriedhof etwas entstanden, das seinen Namen verdient. Das sehen auch die Nutzer so. Sie nennen die Anlage „Plaza“.