In Algerien verkämpfte er sich für die sozialistische Sache. Nach dem Staatsstreich gründete er einen international anerkannten Menschenrechtsverein. Als Asylsuchender kam er 1992 in Deutschland an. Heute ist Slimane Arroudj Altstadtwirt und Gemeinderat in Marbach.

Marbach - Bunt und fröhlich wird es am kommenden Wochenende auf dem Burgplatz zugehen, wenn Menschen verschiedenster Nationen das „Fête de la musique“ feiern, das Marbacher Festival der Kulturen. Gipsy-Swing wird erklingen und Flamenco, irisch-keltischer Folk und nordafrikanische Tanzmusik. Es sind Lieder aus Ghana und Indien, jüdische Melodien und französische Chansons zu hören. Zu verdanken haben die Marbacher das Fest, das zum zweiten Mal stattfindet, dem ehemaligen Asylsuchenden Slimane Arroudj.

 

Die meisten im Ort kennen ihn, doch die wenigsten wissen, wie er mit vollem Namen heißt, denn Slimane Arroudj, das ist in Marbach einfach Slimane, und das Restaurant, das er seit zwei Jahren in der Altstadt betreibt, heißt folgerichtig Chez Slimane – bei Slimane. Mit der Eröffnung der Gaststätte, in der er Gerichte aus seiner Heimat anbietet, dem Maghreb, hat sich der gebürtige Algerier einen Traum erfüllt. „Das Lokal passt zu mir, hier kann ich Menschen kennenlernen und ihnen meine Kultur näherbringen“, sagt er. Egal, wie voll es ist, Slimane Arroudj nimmt sich Zeit, um von einem der edlen Holztische zum anderen zu gehen und in bester Küchenchef-Manier zu fragen, ob es denn schmeckt. Dabei bleibt es meist nicht. Wenn es möglich ist, setzt er sich dazu und kommt mit den Menschen ins Gespräch. Zwischendrin verschwindet er manchmal auf die Terrasse an der Niklastorstraße, um eine Zigarette zu rauchen. Dass er dabei mit vielen Passanten ein Schwätzchen hält, gehört dazu.

Die Gaststätte, an deren Fassade der Wirt zusätzlich den alten Namen „Zum Schillerhaus“ wieder angebracht hat, steht gegenüber Schillers Geburtshaus. Eine Tafel an der Hauswand verrät, dass hier zeitweise dessen Großeltern wohnten und seine Schwester Christophine geboren wurde. Im Inneren haben die Künstlerbrüder Felix und Manuel Seiter Goethes Unterschrift an die Wand gemalt, was nicht jedem Schillerstädter gefällt, aber das Bestreben Slimane Arroudjs ausdrückt, vermeintlich Gegensätzliches zusammenzubringen. Dass er dabei auch gegen Widerstände kämpfen und Kritik einstecken muss, schreckt ihn nicht ab. Es motiviert ihn, erst recht weiterzukämpfen – für den Frieden, für soziale Gerechtigkeit, für Menschenrechte.

Das Kämpferische ist ihm in die Wiege gelegt worden

Dieses Kämpfertum ist ihm in die Wiege gelegt worden. Sein Vater war in Algier ein engagierter Gewerkschafter. Er dürfte stolz sein auf den Sohn, eines von sechs Kindern, der schon im Studium anfing, kulturelle und sportliche Aktivitäten für Mitstudenten zu organisieren. Damals, in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, flammte der Islamismus auch an den algerischen Universitäten auf, und die eher links orientierten Studenten, zu denen Slimane Arroudj gehörte, bemühten sich, dem etwas entgegenzusetzen. Auch sie waren Moslems, aber sie vertraten liberale Ansichten und waren gegen die Verbindung von Religion und Politik. Mit dem von ihnen auf die Beine gestellten Kulturprogramm wollten sie den Kommilitonen auch zeigen, dass es möglich ist, jenseits extremer religiöser Positionen eine Identität als Moslem zu haben.

Slimane Arroudj ging in dieser Kulturarbeit auf, sein Studium der Geodäsie, der Wissenschaft von der Ausmessung der Erde, ließ er links liegen, schaffte aber immerhin einen Abschluss. Dieser brachte ihm zwar den Ingenieurtitel, doch keine adäquate Arbeit ein. Da traf es sich gut, dass aufgrund massiver Unruhen im Oktober 1988 vorübergehend eine Demokratisierung einsetzte und Parteien wie die FFS (Front des Forces Socialistes) entstanden. Arroudj, der längst wusste, wo und wie sehr sein Herz politisch schlug, trat sofort ein. „Damals war richtig was los, es gab Hoffnung.“ Die Parteispitze der Sozialisten wurde auf ihn aufmerksam, berief ihn auf höchster Ebene in eine Arbeitsgruppe für Information und Kommunikation sowie in die Redaktion der Parteizeitung.

Die Machthaber sahen die FFS alles andere als gern, im Gegensatz zu den anderen Parteien erhielt sie keine staatlichen Zuschüsse. Zensur und Ungerechtigkeiten bei der Verteilung der Zeitung waren an der Tagesordnung. Slimane Arroudj fand immer wieder Mittel und Wege, die Hindernisse zu umgehen, die ihnen in den Weg gelegt wurden, weshalb er des Öfteren festgenommen wurde. In der Zelle habe man ihn durch Beleidigungen und Schläge einschüchtern wollen, sagt er, was er damit quittiert habe, dass er die Misshandlungen in die Zeitung gebracht habe.

Im Dezember 1991 stoppte die Regierung Parlamentswahlen nach der ersten Runde, weil sich ein Sieg der Islamisten abzeichnete, im Januar 1992 kam es zum Staatsstreich und zur Militärregierung, der Ausnahmezustand wurde ausgerufen, politische Aktivitäten wurden untersagt. Von der Parteiarbeit ausgeschlossen, gründeten Slimane Arroudj und andere Aktivisten die Jugend- und Menschenrechtsorganisation RAJ (Rassemblement Actions Jeunesse), die noch heute existiert, von der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung unterstützt wird und 1993 den Bremer Solidaritätspreis erhalten hat. Zum Zeitpunkt der Verleihung war ihr Mitbegründer Arroudj, der ahnte, welches Schicksal ihm drohte, bereits auf der Flucht. Ein Freund hatte ihm die Ausreise ins polnische Lodz organisiert.

Das Urteil: 20 Jahre Gefängnis

Am Tag nach seiner Ankunft erfuhr er in einem Telefonat mit seiner Mutter, dass in der Nacht die algerische Antiterrorpolizei bei seinen Eltern aufgetaucht war, um ihn abzuholen. „Wir nannten sie nur die Ninjas, weil sie genauso vermummt waren. Wenn sie kamen, warst du schon so gut wie tot“, sagt Slimane Arroudj. Man warf ihm vor, gegen die innere Sicherheit verstoßen zu haben, verurteilte ihn in Abwesenheit zu 20 Jahren Gefängnis, suchte ihn steckbrieflich und setzte eine Belohnung aus.

Ohne Deutsch zu sprechen und ohne einen Bezug zu seinem Gastland zu haben, außer dass er ein Fan von Borussia Mönchengladbach war, kam Arroudj über Paris nach Erlangen, wo ihn ein Freund aufnahm. Eigentlich wollte er nur kurz zur Ruhe kommen, um zu überlegen, was zu tun sei. Doch dann stellte er einen Asylantrag. Nach ein paar Wochen in Zirndorf wurde er in ein Wohnheim mitten im Wald verlegt: „Als wir ankamen, waren zur Begrüßung der Bürgermeister, die Sozialarbeiterin und einige andere Leute gekommen, es gab belegte Brötchen. Für mich war das echt schön.“ Es sollte ein Schlüsselerlebnis sein, an das er sich immer wieder erinnert.

Heute steht er da und bemüht sich, Asylbewerbern ein ebenso herzliches Willkommen zu bereiten. Es hätte nicht zu ihm gepasst, wenn er im Wald sitzen geblieben wäre, um seiner Heimat nachzutrauern.

Er knüpfte damals gleich Kontakte, wurde bei Amnesty International aktiv, meldete sich beim französischen Kulturinstitut. In Kooperation mit Amnesty berichtete er in Regensburger, Würzburger, Erlanger Schulen über die algerische Geschichte seit dem Unabhängigkeitskrieg, erzählte bei einem freien Radiosender von seinem Land. Sein Asylantrag wurde ein ums andere Mal abgelehnt, obwohl er Papiere, Zeitungsberichte und das über ihn verhängte Urteil vorlegen konnte.

Das neue Zuhause in Schwaben

Die Abschiebung drohte, kam aber nicht, und als Slimane Arroudj im Jahr 1996 seine deutsche Freundin heiratete, zog er den Asylantrag zurück und erhielt stattdessen Reisedokumente für Staatenlose sowie eine Aufenthaltserlaubnis. Er arbeitete bei McDonald’s, was mit einer Kündigung und einem Arbeitsverbot in allen deutschen Filialen endete, nachdem er dort eine Gewerkschaft hatte gründen wollen. Als Arroudjs Frau in Murr eine Arbeitsstelle fand, verschlug es das Paar vor 15 Jahren nach Schwaben. Ein Glücksfall, wie er findet, „die Schwaben geben dir die Möglichkeit, mehr zu machen, wenn sie sehen, dass du auch mehr kannst. Nur mit der Bezahlung hapert es.“

Er kam bei einer Zeitarbeitsfirma als Lagerverwalter unter, stieg dort nach einem Jahr zum Personaldisponenten auf. Und abends kellnerte er in der Marbacher Kneipe Café Provinz, wo er „eine Menge netter Menschen kennenlernte“ und so immer stärker in die Stadt hineinwuchs. Allerdings ging seine Ehe in die Brüche, und er tat sich schwer, eine neue Beziehung zu finden. „Es gab viele Frauen, die mit mir ausgingen, aber keine, die einen schlecht verdienenden Ausländer zum Mann haben wollte.“ Inzwischen ist er mit einer Algerierin verheiratet, einer Juristin, die als Lehrerin arbeitete, als Arroudj sie kennenlernte. Sie haben drei Kinder.

In Algerien ist er seit 2002 rehabilitiert, so dass er einmal im Jahr hinfahren kann, um seine Familie zu besuchen. Besorgt beobachtet er die politische Entwicklung dort: „Es kann jederzeit etwas passieren.“ Er hat Angst vor Unruhen und Bürgerkrieg und kritisiert, dass der Westen den Islamismus nicht wirklich bekämpfe, sondern nur am (Öl-)Reichtum dieser Länder interessiert sei. Ein Zurück gebe es angesichts der instabilen Lage für ihn wohl nicht.

Längst hat er einen deutschen Pass und ist hier zu Hause. Schon als er zum ersten Mal nach Marbach kam, habe er gewusst, dass er hier bleiben wolle, sagt Slimane Arroudj. Er spielte Theater und Fußball, eröffnete einen Laden mit Lebensmitteln und Kunsthandwerk aus seiner Heimat und nach zehn Jahren das Chez Slimane. Im vergangenen Jahr trat er für Puls, die Parteiunabhängige Liste Solidarität, bei den Marbacher Gemeinderatswahlen an und kam dank eines Ausgleichsmandats gleich in das Gremium.

Zwei Tage lang ein Fest der Kulturen

Seit vielen Jahren organisiert er in Zusammenarbeit mit dem Marbacher Kulturamt die Reihe „Internationale Nächte“, bei denen jeweils ein Land musikalisch und kulinarisch im Mittelpunkt steht. Zum Zehn-Jahres-Jubiläum gab es im vergangenen Jahr ein eintägiges „Fête de la Musique“. Es wurde ein derart großer Erfolg, dass es nun wiederholt wird und sogar zwei Tage dauert.

Wenn Slimane Arroudj außerhalb der Öffnungszeiten im Chez Slimane neben dem Kachelofen sitzt, mit der Hand über den glatt polierten Tisch streicht, an seiner Zigarette zieht und seinen Blick hinüber zu  Schillers Geburtshaus wandern lässt, merkt man, dass er in Marbach zu Hause ist. Im Mai wurde er 50 Jahre alt, ein Fest hat er nicht veranstaltet, doch es hatte sich herumgesprochen, und Menschen jeglicher Herkunft kamen in sein Restaurant, um ihm zu gratulieren. „Hier bin ich total angenommen“, sagt Arroudj. „Das Leben in Marbach ist für mich einfacher, denn hier bin ich so akzeptiert, wie ich bin.“