IT-Spezialisten werten aus, über welche Finanzthemen in den sozialen Netzwerken gesprochen wird. Anleger erhalten so eine Orientierungshilfe – aber keine Garantie auf Kursgewinne.

Stuttgart - Das mythenumwobene Orakel von Delphi sprach angeblich nur einmal im Jahr, allerhöchstens einmal im Monat. Heute ginge es in der immensen Flut an Kommentaren und Daten unter. Pro Monat schwirren schätzungsweise 500 Millionen Tweets um den Erdball. Bevor der Dax am 5. Juni zum ersten Mal die 10 000-Punkte-Marke überschritt, beschworen unzählige Blogger und Twitterer in den Tagen zuvor den neuen Höchststand. Nun mag man sagen, dass es in einem positiven Börsenumfeld und der erwarteten EZB-Zinsentscheidung keine Kunst ist, treffende Prognosen abzugeben.

 

Die Twitter-Kommentare nehmen den Kursrückgang vorweg (Klicken Sie auf die Grafik für eine größere Ansicht)

Doch aus dem vielstimmigen Meinungsuniversum in den Sozialen Netzwerken lassen sich überraschende Trends herausfiltern. Die so genannte Schwarmintelligenz v ist eine Quelle, um bessere Einschätzungen über Finanzmarkttrends zu erhalten. Amerikanische Forscher vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) haben zusammen mit ihren chinesischen Kollegen ein halbes Jahr lang den Zusammenhang zwischen emotionalen Äußerungen von Twitter-Anlegern und dem Kursverlauf von amerikanischen Indizes – Dow Jones, Nasdaq und S&P-500 – untersucht. Das Ergebnis ihrer 2011 veröffentlichten Studie: An Tagen, bevor die US-Leitindizes sanken, gingen die Emotionen in der Online-Community in der Regel hoch. An Tagen, an denen es wenig subjektive Äußerungen zum Marktumfeld gab, notierten die Börsen stabiler.

Die EU hat Forschungsgelder bereit gestellt

Auch der Stuttgarter Wirtschaftswissenschaftler Ulli Spankowski, der ein EU-Forschungsprojekt namens First zu dem Thema geleitet hat, hält die sogenannte Sentiment-Analyse für ein viel versprechendes Werkzeug, um Trends an den Kapitalmärkten frühzeitig zu erkennen. Er hat gemeinsam mit Partnern aus dem im Herbst beendeten EU-Projekt die Firma Sowa Labs gegründet, die eine marktreife selbstlernende Analyse-Software entwickelt hat.

Der 32-jährige Jungunternehmer stellt fest, dass Big-Data-Analysen so stark verbessert worden sind, dass sie Meinungsäußerungen in den sozialen Netzwerken mit sehr hoher Treffsicherheit erkennen können – was selbstverständlich noch nicht heißen muss, dass sich der Markt exakt in diese Richtung entwickelt. Gerade wenn die Erwartungen besonders hoch sind, können sie enttäuscht werden.

Wie interpretiert man einen Tweet?

Zunächst einmal geht es darum, Stimmungen im Netz treffsicher einzufangen. Wie bewertet man den Tweet „Siemens baut 1500 Stellen“ ab? Um die Aussage als – aus Sicht der Börsianer wohlgemerkt – positiv, negativ oder neutral zu interpretieren, muss die Software zusätzliche Informationen über den Siemens-Konzern verwerten können. War ursprünglich ein höherer Stellenabbau geplant? In welchen Sparten wird gespart? In welchem Zeitraum erfolgt der Abbau?

Auffällig sei, dass die Twitter-Kommunkation in den USA weit emotionaler sei. In Deutschland, wo hauptsächlich über die Dax-Werte getwittert wird, seien die Aussagen sachlicher, sagt Spankowski. Ein wesentlicher Vorteil der Online-Kommunikation sei ihre die Schnelligkeit. „Twitter ist häufig so schnell wie die großen Nachrichtendienste, in Einzelfällen sogar schneller“, sagt Spankowski.

Das Finanzportal Onvista nutzt die Sentiment-Analyse

Das Online-Finanzportal Onvista stellt die Social Media Trendanalyse neben anderen Informationen, etwa Analystenempfehlungen, auf seiner Website kostenlos zur Verfügung. „Wir tragen damit der in den letzten Jahren gestiegenen Bedeutung von Twitter, Finanzblogs oder Finanzforen Rechnung“, sagt Lars Merle, Geschäftsführer der Onvista Medien GmbH. Die Kölner beziehen ihre Daten von Stockpulse, einem ebenfalls in Köln ansässigen IT-Spezialisten. Stockpulse verwendet Wortlisten zur Datenanalyse. Experten halten die Methode allerdings für weniger treffsicher als Software, die auch ganze Sätze und den semantischen Kontext auswerten kann. Merle ist dennoch voll des Lobes für die Jungunternehmer, die am MIT und der Uni Köln zu dem Thema geforscht haben. Stockpulse fasse die Stimmungslage der Marktteilnehmer mit hoher Treffsicherheit zusammen. Die Signale ließen sich kurzfristig in Anlage- und Handelsstrategien umsetzen, sagt der Onvista- Manager. Das kostenlose Angebot werde gut angenommen, die volle Leistungsfähigkeit des Systems lasse sich allerdings erst durch den kostenpflichtigen Premiumzugang ausschöpfen.

Die Deutsche Bank ist bei dem Thema zurückhaltender. Das Institut greife bei seinen Empfehlungen für Anleger nicht auf Sentiment- oder Social-Media-Analysen zurück, sagte eine Sprecherin auf Anfrage. „Wir nutzen andere Quellen.“ Grundsätzlich aufgeschlossen zeigt sich hingegen die Börse Stuttgart, auch wenn sie die Technologie noch nicht aktiv nutzt. Spankowski hatte sich in ihrem Auftrag um das mit 4,6 Millionen Euro geförderte EU-Projekt namens First beworben. Börsenchef Christoph Lammersdorf ist aber optimistisch: „Wir gehen fest davon aus, dass die Ergebnisse des First-Projekts langfristig dazu genutzt werden können, Privatanleger bei ihrer Entscheidungsfindung zu unterstützen.“ Lammersdorf warnt aber vor zu hohen Erwartungen: „Eine Sentiment-Analyse kann dem Anleger die Entscheidung nicht abnehmen.“ Zur Abrundung sonstiger verfügbarer Informationen sei sie aber durchaus sinnvoll.

Die Stimmungsanalyse sei eine Zusatzinformation, sagt auch Spankowski. Jeder Börseninteressierte müsse seine Anlageentscheidung auf eine möglichst breite Informationsbasis stellen. Die einfache Informationsverbreitung über soziale Medien berge jedoch die Gefahr, dass gezielt Falschinformationen gestreut werden.

Täuschungsversuche fliegen auf

Twitter ist anonym und bestens geeignet, um Nachrichten schneeballartig zu streuen. Entsprechend hoch ist die Anfälligkeit für Manipulationen. Manche Täuschungsversuche verursachten schon einen hohen Wellenschlag. So wurde im April vergangenen Jahres der Twitter-Zugang der Nachrichtenagentur AP von Unbekannten geknackt. Der von den Hackern verbreitete Tweet über einen vermeintlichen Anschlag auf das Weiße Haus drückte den Dow Jones augenblicklich ins Minus. Am 22. Januar 2013 twitterte der von einem unbekannten russisch-schweizerischen Banker betriebene Internetdienst Russian Market, Bundesbankpräsident Weidmann sei zurückgetreten. Daraufhin sackte der Euro-Kurs kurzzeitig um einen Cent ab. Die Bundesbank, die ihrerseits Social-Media-Experten beschäftigt, konnte die Falschmeldung schnell wieder einfangen. Die Bafin hat den Vorfall untersucht.

Daten sollten nicht nur maschinell ausgewertet werden

Sowa Labs sei in der Lage, solche Manipulationen zu erkennen, sagt Spankowski – gerade weil die Daten nicht nur maschinell ausgewertet werden. Eine weitere Aufgabe der Software sei, aus dem sich immer schneller drehenden Datenuniversum den Datenmüll herauszufiltern.

Eine beliebte Masche ist die sogenannte Pump-and-dump-Methode: Eine exotischer Billigaktie wird in den Blogdiensten überschwänglich angepriesen. Steigen genügend Anleger darauf ein und treiben den Kurs nach oben, verkaufen die Stimmungsmacher ihre Aktien zu dem überhöhten Preis. Solchen Manipulationsversuchen schenken die Aufsichtsbehörden immer mehr Aufmerksamkeit. Doch in den allermeisten Fällen können sie erst tätig werden, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Zwei Finanzmarktforscher von der Uni Göttingen, Jan Muntermann und Irina Alic, suchen nach Möglichkeiten, wie Betrüger möglichst schon auf frischer Tat ertappt werden können. Auch Spankowski, der mit den beiden Göttinger IT-Spezialisten in dem EU-Projekt zusammengearbeitet hat, sieht in der Real-time-Marktüberwachung großes Potenzial. Zunächst müsse aber die Technologie verbessert werden.

Datenanalyse aus Social Media Kanälen könnte eines Tages in der Handelsüberwachung unterstützend eingesetzt werden, glaubt auch Börsenchef Lammersdorf. „Wenn bereits ein Verdachtsmoment besteht, würde der Handelsüberwachungsstelle damit eine weitere Prüfungsmöglichkeit an die Hand gegeben.“ Doch noch konzentriere sich die börseninterne Kontrollinstanz aber auf die systematische Auswertung aller Daten, die im Rahmen des Börsenhandels anfallen.