Die Jamaikaverhandler gehen in Berlin ins Wochenende – mit völlig offenem Ausgang. Ein Ende der Verhandlungen scheint noch nicht in Sicht.

Berlin - Zuhause bei Wolfgang Kubicki kommt es bald zum Äußersten, wenn sich nicht bald was tut. Nach der schier endlosen Nacht spricht der Liberale davon, dass man im Grunde wieder ganz von vorne anfange. Eigentlich hätte die Nacht – so wollte es Kanzlerin Angela Merkel – in den Koalitionsgesprächen eine Entscheidung bringen sollen und hat dann doch nur – manche würden sagen, immerhin – den Weg in die Verlängerung geebnet. Der Grund: die Kluft zwischen Grünen und CSU in der Flüchtlingsfrage. „Bei einigen unserer Kolleginnen und Kollegen steht die Ehe auf dem Spiel“, merkt Wolfgang Kubicki schließlich noch an und berichtet, er habe seine Frau anweisen müssen, ihm aus Kiel ein paar frische Hemden zu bringen. Worauf diese via „Tagesspiegel“ ausrichten lässt, sie habe als Rechtsanwältin genug um die Ohren: Ihr Mann müsse auf seine Lieblingshemden deshalb erst mal verzichten.

 

Wenn ein übermäßig deodorierter FDP-Vize am Ende das härteste Opfer wäre, das in den Verhandlungen zu erbringen ist, wären die Jamaika-Befürworter noch mal glimpflich davon gekommen. Denn mehr als einmal hat es nachts zuvor in der Parlamentarischen Gesellschaft so ausgesehen, als sei das Ende gekommen. 18 Stunden Ringen im großen, kleinen und kleinsten Kreis haben abermals zu keinem Ergebnis geführt. Vertagt hat man sich. Neuer Termin: Acht Stunden später, diesmal nicht unter dem Bild des streng blickenden früheren Reichskanzlers Otto von Bismarck, sondern im Konrad-Adenauer-Haus, dem Kraftzentrum der Christdemokratie. Also wieder auf Los, ratlos wie eh und je.

Viele Unterhändler fragen sich: Wer ist in der CSU eigentlich der Chef?

Angela Merkel lässt sich das nicht anmerken, als sie gegen 11 Uhr in die aufgebaute Falle der Kameraleute läuft. Frisch wie der noch junge Tag nennt sie die zu lösende Aufgabe „nicht ganz trivial“. Aber es lohne sich sicherlich, „in die zweite Runde zu gehen“. Auch die Grünen Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt geben sich staatstragend und tun so, als sei nichts geschehen. Sei doch normal, dass es dauere, Vertrauen aufzubauen, wo man doch in so unterschiedlichen Winkeln der politischen Landschaft aufgebrochen sei, um am Ende zueinander zu finden. Sollte, wie manche vermuten, das Kalkül einiger CSU-Granden tatsächlich gewesen sein, die Grünen in der Nacht zuvor durch brutale Hartleibigkeit zur Aufgabe zu zwingen, ist es nicht aufgegangen. Der schwarze Peter harrt weiter der Dinge

Erster Kandidat für diese zweifelhafte Auszeichnung ist aus Sicht der Umweltpartei Horst Seehofer, der sie zwingen wollte, die Unionsposition zur Zuwanderung ohne jede Kommaänderung zu übernehmen. Eigentlich aber fragen sich viele Unterhändler, gar nicht mal nur bei den Grünen, wer in der CSU derzeit eigentlich der Chef ist. Noch Seehofer? Oder schon Markus Söder, der emsig dessen Absetzung betreibt? Hat Bayerns Finanzminister, obwohl gar nicht in Berlin dabei, etwa den CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt und den Generalsekretär Andreas Scheuer, der in der Nacht bestens gelaunt den wartenden Journalisten eine Runde Pizza bestellt hat, schon auf seine Seite gezogen?

Die Christsozialen halten an der Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen fest

Diese Fragen haben die Nacht geprägt, in der die Achterrunde mit Merkel, Unionsfraktionschef Volker Kauder, Seehofer, Dobrindt, Göring-Eckardt, Özdemir, Kubicki und FDP-Chef Christian Lindner allein um die alles entscheidende Flüchtlingsfrage gerungen hat. Irgendwann kurz vor Mitternacht hat Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner dann ausgesprochen, dass seine Partei einen „Machtkampf in der CSU“ sieht, Seehofer mithin gar keine Lizenz mehr habe, auf die Grünen zuzugehen, selbst wenn er wolle. Empört weisen die Bayern das zurück, verwerfen die These wahlweise als „absoluten Unsinn“ oder etwas traditioneller als „Schafscheiß“. „Was erlaube Kellner?“ fragt einer im Stile des ehemaligen Münchner Fußballtrainers Giovanni Trapattoni.

Als grünes Hirngespinst lässt sich die Sache freilich nicht abtun. In der FDP wie der CDU gibt es ähnliche Stimmen, etwa jene mit dem so schrägen wie derben Vergleich, Seehofer sei ein „armes Schwein, eingemauert von anderen CSU-Schweinchen“. Im Krieg der Worte schlagen die so Titulierten auch diesen Angriff zurück. Es gehe den völlig einigen Christsozialen allein um die Sache: „Wir können keinen Familiennachzug erlauben, wo jedem Blinden klar ist, dass damit die Zahl von 200 000 Flüchtlingen im Jahr überschritten wird – und wir haben unseren Wählern versprochen, dass das nicht passiert.“

In der Nacht standen die Verhandler mehrfach am Abgrund des Scheiterns

Finster ist die Nacht, finster sind nach solcherlei Auseinandersetzungen die Mienen mancher Unterhändler gewesen, die am frühen Morgen in der Dunkelheit zu den Limousinen gehuscht sind. Das mag daran liegen, dass sie, nach allem was man hört, zuvor mehrfach in den Abgrund des Scheiterns geblickt haben. Neuwahlen, Schaden für Deutschland und Europa. Als „staatspolitische Aufgabe“, bezeichnet es es daher Armin Laschet, Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, mit den Grünen im Kohlestreit verhakt, doch noch irgendwie zusammenzukommen. Was man halt sagt in so einem Moment, in dem einen die Erkenntnis zermürbt, dass das rettende Ufer weit und die eigene Kraft endlich ist. Vielleicht ist es auch nur der Umstand, dass an Schlaf immer noch kaum zu denken ist. Schließlich wird nun über das Wochenende weiterverhandelt – mit offenem Ausgang.

Christian Lindner müht sich um Optimismus. Ihm ist, wie allen anderen auch, eines klar: Platzt die Sache, muss ein anderer schuld, man selbst stets kompromissbereit und konstruktiv gewesen sein. Zuversicht ist seinen Worten deshalb zu vernehmen. Bei Bildungsfragen sei man sich näher gekommen, bei der Digitalisierung, in der Europapolitik. Es gibt den Entwurf eines gemeinsamen Papiers, 61 Seiten lang, mit vielen strittigen Passagen in eckige Klammern gesetzt, aber immerhin eben auch viel Verbindendes. Von Jamaika als einem „historischen Projekt“ spricht Lindner, der lange so skeptisch über dieses Bündnis sprach. Die Hürden seien überwindbar. So was dürfe nicht „an ein paar Stunden scheitern“. Sätze, die darauf angelegt sind, die Fallhöhe für jene zu erhöhen, die es womöglich aufs Scheitern ankommen lassen.

Das schwar-gelb-grüne Hickhack ist in der nächsten Endlosschleife gemündet

Dieses Szenario weist, dieser Logik folgend, auch Seehofer am Freitag weit von sich: „Es gibt keinen Anlass von einem Scheitern zu reden, sonst müssten wir uns heute ja gar nicht treffen“, meint der Bayer, dessen Obergrenze nun auch die Koalitionsgespräche dominiert. Auch er aber schiebt den Schwarzen Peter vorsorglich schon einmal weiter: „Manche, die nach außen pausenlos erklären, dass sie sich bewegen, verhalten sich nach meiner Meinung nicht so, wenn wir zusammensitzen.“

So ist dieser schwarz-gelb-grüne Hickhack in der vermeintlichen Nacht der Entscheidung in der nächsten Endlosschleife gemündet. Terminlich hat Kanzlerin Merkel ihre selbst gelegte Latte gerissen, obwohl sie mit Kompromisslinien in die eigentlich entscheidende Sitzung gegangen ist. Bei Kohle könnte man sich wohl einigen, da hat Merkel persönlich einen Vorschlag gemacht, verbunden mit der Ansage, jetzt sei mal Schluss mit Detailarbeit, jetzt werde Politik gemacht. Ein Signal, das ein Unterhändler zwischenzeitlich als hoffnungsvollen Auftakt begriffen hat, dass man nun endlich wie Erwachsene miteinander reden werde und nicht weiter „Sandkastenspielchen“ austrage. Aber dann hat es sich, wie zu befürchten gewesen ist, beim Thema Zuwanderung verhakt.

Wie soll man herausfinden aus diesem Labyrinth?

Die große Frage ist: Wie soll man herausfinden aus diesem Labyrinth? Was soll am Sonntag anders sein in der baden-württembergischen Landesvertretung, wo die nächste finale Sitzung stattfindet? Jedes Gespräch mit Entsandten der CSU-Delegation fühlt sich an wie ein frostiger Plausch in der Eiskammer. „Bei Migration gibt es bei uns keinen Spielraum – null“, ist wieder und wieder zu hören. Auch die Grünen wollen nicht weichen, aber keiner hat bisher die Vollbremsung gewagt. Lieber nochmal verhandeln. Aber selbst wenn sich diese Koalition irgendwann einigt: Spätestens jetzt wird klar, wie verschieden die Protagonisten sind, und dass der Weg zu echtem Vertrauen weit bleiben wird – selbst wenn die Tinte unter dem Koalitionsvertrag irgendwann mal trocken sein sollte.