3,1 bis 4,9 Millionen Bedürftige haben wegen ihres geringen Einkommens einen Anspruch auf Hartz IV, realisieren diesen aber nicht. Dies hat das Forschungsinstitut IAB ermittelt.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Etwa 34 bis 43 Prozent der Anspruchsberechtigten verzichten auf die Regelleistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch (SGB II und XII). Die Prozentzahlen entsprechen ungefähr 3,1 bis 4,9 Millionen Bedürftigen, die in 1,75 bis 2,7 Millionen „verdeckt armen Haushalten“ leben. Damit sind Haushalte gemeint, die aufgrund ihres geringen Einkommens und Vermögens zwar einen Anspruch auf Hartz IV haben, diesen aber nicht realisieren. Gründe der Zurückhaltung können Unwissenheit, Scham oder eine geringe Erwartung an Dauer und Höhe der staatlichen Hilfeleistung sein.

 

Errechnet hat die Zahlen das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Es stellte eine Simulationsrechnung zu den Referenzgruppen bei der Ermittlung des Regelbedarfs an. Auftraggeber der 247-seitigen Studie ist das Bundesarbeitsministerium. Der Bundestag hatte die Regierung beauftragt, bis zum 1. Juli einen Bericht zu den zentralen Fragen der Regelsatzbemessung vorzulegen. Diese Anforderung geht wiederum zurück auf ein Urteil des Verfassungsgerichts vom 9. Februar 2010, das die Regelleistungen als verfassungswidrig beanstandet hatte. Vor allem die Methodik zur Bedarfsbemessung wurde damals als nicht transparent gerügt.

Auftrag vom Bundesverfassungsgericht

Karlsruhe verpflichtete den Gesetzgeber, „verdeckt arme Haushalte“ treffsicher zu identifizieren und bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben aus der Referenzgruppe zu entfernen. Auch die Oppositionsparteien und die Sozialverbände sind der Ansicht, dass diese Haushalte bei der Bestimmung der Regelsätze ausgeklammert werden müssten, weil sie die Datenbasis verfälschen. Weil zudem das Konsumverhalten der Bedürftigen berücksichtigt wird, falle der vom Bundesarbeitsministerium berechnete Regelsatz generell geringer aus, als er aus Sicht der Kritiker sein müsste.

„Das Problem der verdeckt Armen ist schon lange bekannt, wird aber von der Politik verdrängt“, moniert Caritas-Generalsekretär Georg Cremer. „Wir brauchen endlich eine offene Diskussion über die Berechnung der Regelsatzhöhe.“ Entscheidend sei, wie es gelinge, das Existenzminimum realistisch zu berechnen. Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband nimmt die Regierung aufs Korn, weil sie sich weigere, existenzsichernde Regelsätze für Hartz IV-Bezieher einzuführen. Sie halte es noch immer für richtig, dass zur Bemessung das Konsumverhalten von Haushalten erforscht wird, die Anspruch auf Sozialleistungen haben. „Hartz IV wird weiterhin an Hartz IV bemessen,“ empört sich der Geschäftsführer Werner Hesse. Der Monatssatz für einen Ein-Personen-Haushalt beträgt derzeit 382 Euro. Der Wohlfahrtsverband hatte schon 2011 einen Regelsatz von 442 Euro als bedarfsdeckend errechnet.

Der Vorstand der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, Uwe Becker, bewertete die hohe Quote der Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen als „beschämend für unseren Staat“. Sie sei aber erwartbar, denn „für viele ist der Gang zur Arbeitsagentur ein Kreuzgang der Demütigung“.