Was passiert, wenn sich zwei Menschen im fortgeschrittenen Alter ineinander verlieben? Ein berührender Film gibt einen Einblick in die Beziehung von Hanne-Lore Wittkuhn aus Böblingen und Jens-Peter Tetzlaff aus Flensburg.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Böblingen/Flensburg - Prolog: im August 2010 verliert Hanne-Lore Wittkuhn aus dem Dorf Dachtel im Kreis Böblingen unerwartet ihren Mann. Ein gutes Jahr später lernt sie über eine Bekanntschaftsannonce den norddeutschen Witwer Jens-Peter Tetzlaff kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Spontan beschließt sie, zu ihm in die Nähe von Flensburg zu ziehen. Als die Stuttgarter Zeitung am 12. Juni 2012 über Hanne-Lore Wittkuhns Aufbruch an die Ostsee berichtet, sitzt die 70-Jährige bereits auf gepackten Umzugskartons. Sie nimmt Anlauf zum Weitsprung in ein neues Leben.

 

Die Autorin der StZ-Reportage ist Marisa Middleton, seinerzeit Studentin an der Filmakademie Baden-Württemberg. Nun, im Herbst 2014, sitzt die 33-Jährige warm eingepackt vor dem Café Baron auf dem Ludwigsburger Marktplatz und berichtet, was sich seither in ihrem Berufsleben getan hat: Sie bestand vor einem Jahr ihr Diplom mit dem Schwerpunkt Regie/Dokumentarfilm. Ihre erste große Produktion an der Akademie, die Pubertätsdoku „Endlich vierzehn!“, wurde Ende Februar im WDR gezeigt. Und ihre Abschlussarbeit „Die Zukunft gehört uns“ ist in diesem Monat im SWR und auf einem renommierten Festival in Amsterdam zu sehen. Der Film knüpft dort an, wo der Zeitungsartikel endete: bei Hanne-Lore Wittkuhns liebesbedingter Emigration in den hohen Norden.

Wie kommt eine junge Frau darauf, sich mit den Gefühlswallungen von Senioren zu beschäftigen? Marisa Middleton erzählt, dass sich ihre Eltern vor 14 Jahren getrennt hätten: „Meine Mutter scheint mit ihrer Situation nicht glücklich zu sein, deshalb wollte ich einen Film für ältere Singles machen.“ Der Redakteur beim SWR, der für die Vergabe von Fördergeld zuständig ist, fand die Idee nur halbwegs gut. Dokumentationen über Alleinstehende gebe es viele, origineller wäre eine Geschichte über das Wohl und Wehe einer frischen Zweisamkeit im fortgeschrittenen Alter.

Die Suche nach Protagonisten begann. Von rund 30 Bewerbern kamen zehn in die engere Auswahl. Mit fünf Paaren führte Marisa Middleton ausführliche Interviews, daraus entstand als Nebenprodukt zu dem geplanten Dokumentarfilm die StZ-Serie „Späte Liebe“. Am Ende des mehrmonatigen Castings wurden Hanne-Lore Wittkuhn und Jens-Peter Tetzlaff als Hauptdarsteller auserkoren.

Die Schwäbin und der Seebär

Anruf in Glücksburg, Schleswig-Holstein. Wie ist das, wenn man anderthalb Jahre lang von einem Filmteam begleitet wird? „Ach, wir hatten alle so viel Spaß“, antwortet Hanne-Lore Wittkuhn. „Die Marisa und ich liegen ja auf einer Wellenlänge. Den Kameramann und den Tontechniker nimmt man irgendwann gar nicht mehr wahr.“ Hat Ihr neuer Lebenspartner das auch so empfunden? „Jens-Peter, komm doch mal ans Telefon, ein Herr von der Zeitung will dich sprechen!“

Jens-Peter Tetzlaffs Erlebnisbericht klingt nicht ganz so euphorisch. Mit tiefer Seebärenstimme erzählt der 69-Jährige, dass ihm die Regiestudentin Marisa Middleton und ihr technischer Anhang zeitweise mächtig auf den Zeiger gingen: „Ich hatte ja sehr viel zu tun, das neue Haus einrichten und so. Da ist es schon störend, wenn ständig jemand mit der Kamera vor einem herumturnt.“ Wenn ihm der Rummel zu groß wurde, flüchtete Tetzlaff aus seinem eigenen Haus.

In 40 Drehtagen kamen hundert Stunden Filmmaterial zusammen: Hanne-Lore Wittkuhn beim Blumengießen, Jens-Peter Tetzlaff beim Müllwegbringen, Hanne-Lore Wittkuhn und Jens-Peter Tetzlaff beim Händchenhalten. Und so weiter. „Ich hatte zunächst Unmengen Szenen, aber keine Geschichte“, sagt Marisa Middleton. Die ersten Versuche scheiterten, dem Wust am Schneidetisch eine dramaturgische Form zu verleihen. „Wir erstickten in Bildern von zwei frisch Verliebten. In dieser Anfangsphase sah alles eher nach Rosamunde Pilcher aus als nach einem Dokumentarfilm.“

Letztlich wurde „Die Zukunft gehört uns“ doch noch ein fesselnder Film – und ein weiterer Beweis dafür, dass das normale Leben die besten Geschichten schreibt: Nachdem das gemeinsame Heim eingerichtet ist und die Schmetterlinge nicht mehr ganz so wild durch die Bäuche flattern, schlittert das Seniorenpaar in den Alltagstrott. Er sitzt gemütlich im Sessel, sie zupft Unkraut im Garten. Sie möchte zur Aqua-Gymnastik, er findet das Rumgehampel im Schwimmbad affig. Sie sucht einen komfortablen Wohnwagen für gemeinsame Urlaubsabenteuer aus, er meint, dass es ein billigeres Modell auch tue. Wenn das Telefon klingelt, ruft er jedes Mal: „Für dich!“ Die meisten Streitigkeiten tragen die beiden Sturköpfe geschlechtsspezifisch aus: Sie redet pausenlos, er zieht sich irgendwann schmollend zurück.

Jens-Peter Tetzlaff besitzt einen Heimvorteil. Er hat in Flensburg gute Kumpel, die ihm aufmunternd auf die Schulter klopfen und ihm raten, wegen ein paar kleiner Meinungsverschiedenheiten nicht gleich seine neue Flamme aufzugeben. Hanne-Lore Wittkuhn lebt hingegen 850 Kilometer von Freunden und Familie entfernt. Und dann ist da auch noch ihr eifersüchtiger Sohn Torsten, der seiner Mutter das neue Liebesglück nicht gönnt und sie am Telefon mit Vorwürfen bombardiert. Nach ein paar Monaten droht Hanne-Lore Wittkuhn an der Ostsee in einem Meer aus eigenen Tränen zu ertrinken. Sie fühlt sich einsam, die Schwester, die Kinder und die Enkel, die sie im Schwabenland zurückgelassen hat, fehlen ihr.

„Die Zukunft gehört uns“

Man könnte darüber spekulieren, ob Hanne-Lore Wittkuhn all die Herausforderungen in der neuen Beziehung und in der fremden Umgebung gemeistert hätte, wenn nicht regelmäßig das Filmteam vorbeigeschaut hätte, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Marisa Middleton verfügt über ein professionell ausgebildetes Einfühlungsvermögen: Bevor sie beschloss, sich in Ludwigsburg beruflich neu zu orientieren, hatte sie 13 Semester Psychologie in Hamburg und Berlin studiert. „Kaum ein Therapeut nimmt sich so viel Zeit für seine Patienten wie ein Dokumentarfilmer für seine Protagonisten“, sagt sie.

„Die Zukunft gehört uns“ gewährt einen ungewöhnlich tiefen Einblick in fremde Gefühlswelten. Der Film wirkt wie ein Roman von Theodor Fontane: alltäglicher Realismus, verpackt in poetische Bilder (Kamera: Christian Trieloff). Die Handlung bleibt vollkommen unkommentiert, Marisa Milddleton überlässt es dem Zuschauer, Schlüsse zu ziehen.

Viele Fragen stellen sich von allein, wenn man Hanne-Lore Wittkuhn und Jens-Peter Tetzlaff bei ihrer Suche nach dem gemeinsamen Glück zusieht. Verhalten sich frisch Verliebte mit 70 anders als mit 17? Ist Freiheit mehr wert als Geborgenheit? Wie weit kann man sich einem neuen Partner anpassen, ohne dabei sich selbst aufzugeben? Das Paar bildet eine ideale Projektionsfläche für Menschen, die über mehr als fünf Jahrzehnte Lebenserfahrung verfügen. Vieles kennt man aus eigenen Beziehungen.

Die Geschichte weist aber auch über den eigenen Horizont hinaus – zu Ereignissen, die einem womöglich noch bevorstehen und von denen man nicht weiß, wie man sie verkraften würde. Bei ihrem Abschied aus Dachtel legt Hanne-Lore Wittkuhn Blumen auf das Grab ihres verstorbenen Mannes. „Irgendwann muss man einfach sagen: Das Leben geht weiter“, spricht sie mit feuchten Augen in die Kamera. Spätestens, wenn sie tot ist, führt Hanne-Lore Wittkuhns Weg zurück nach Dachtel – „damit die Kinder nur ein Grab zu pflegen haben“, wie sie sagt: „Das alte Leben ist nie weg, es ist immer da.“

Zweifel in Glücksburg

Seit ihr Ehemann bei einem Bootsunfall in Kroatien ums Leben gekommen ist, verfolgt Hanne-Lore Wittkuhn die Angst, dass so etwas noch einmal passieren könnte. So sitzt sie am Esstisch in Glücksburg und wartet darauf, dass Jens-Peter vom Übungseinsatz seiner Rettungshundestaffel heimkommt. Er verspätet sich. Als er endlich auftaucht, hält sie ihm eine Strafpredigt. Und ihm stehen die Zweifel ins Gesicht geschrieben: Ist diese Furie wirklich die Frau, von der mich erst der Tod scheiden soll? Die Beziehung steht auf der Kippe.

Epilog: seit zweieinhalb Jahren sind Hanne-Lore Wittkuhn und Jens-Peter Tretzlaff nun vereint. „Wir haben uns aneinander gewöhnt“, sagt er am Telefon, und dass es eben zu einer Beziehung gehöre, „dass jeder Abstriche machen muss“. Die Kämpfe mit Hanne-Lore um Geringfügigkeiten seien seltener geworden, die Einsicht, dass er und sie sich wunderbar ergänzen, wachse stetig. „Die Hauptsache ist doch ohnehin, dass wir uns lieb haben.“

Also alles im Lot. Und zwar nicht nur bei den beiden Spätliebenden, sondern auch bei der Jungregisseurin, die diese private Geschichte öffentlich gemacht hat. Marisa Middleton dreht zurzeit Image-Filme für den Naturkosmetikhersteller Weleda und für den WDR eine Dokumentation über ein schlaues Mädchen aus der Dortmunder Nordstadt. Noch wohnt die Filmemacherin in ihrer Ludwigsburger Studenten-WG. Doch spätestens im Februar, wenn Marisa Middleton Mutter wird, will sie mit dem Vater des Kindes – einem ehemaligen Kommilitonen – zusammenziehen. Vielleicht findet sich ja eine angehende Regisseurin an der Filmakademie Baden-Württemberg, die diese Beziehung zu einer berührenden Abschlussarbeit verarbeiten wird.