Die beiden großen Orchester in Stuttgart und Baden-Baden/Freiburg werden wohl fusionieren. Wenn nicht ein Wunder geschieht.

Stuttgart - Der wortmächtige Komponist Helmut Lachenmann bediente sich des Faxgeräts in seinem Arbeitsdomizil, der Casa Elmo am Gardasee, um in die Heimat zu senden, was er von einer Fusion des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart und des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg hält: Das sei ein „untrügliches Zeichen einer gedankenlos geförderten geistigen Verflachung im Bewusstsein einer Gesellschaft, welche im Zuge der Gleichmacherei zwischen dem Wirken solcher Einrichtungen wie der hier gefährdeten Orchester und demjenigen weniger sensibler Einrichtungen, etwa solcher des Sports und der Unterhaltung, den substanziellen Unterschied zu erkennen, weithin unfähig ist“.

 

Lachenmanns weit schwingende intellektuelle Keule gehört zu einem anschwellenden Besorgnischor, seit Peter Boudgoust, der Intendant des Südwestrundfunks, angekündigt hat, dass es angesichts der Kassenlage an die beiden Orchester geht. Lajos Lencsés, Solo-Oboist des Stuttgarter RSO von 1971 bis 2008, war „schockiert“, als er erfuhr, was seinem Orchester drohen könnte. Lencsés, ein international anerkannter Meister seines Instruments, bemühte ein Wort von Pier Paolo Pasolini. Drohe nun der „Konsumfaschismus“ und, so fragte er: „Wollen wir uns dem Diktat des Geldes und des Konsums beugen und das aufgeben, was uns menschenwürdiger macht?“

Der Bundestagspräsident warnt

Nach anfänglich erschrockener Stille regt sich der Widerstand. Der Förderverein des RSO schreibt die Mitglieder und Politiker im Rundfunkrat an, der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum stellt dem Sender und Intendanten ein „Armutszeugnis“ aus und meint, was der SWR vorhabe, „grenzt an Kulturbarbarei“. Und Bundestagspräsident Nobert Lammert hält es für absehbar, „dass irgendwann jemand das zum Gegenstand einer Verfassungsklage macht“. Lammert bezieht sich auf die Rechtfertigung für das Erheben von Rundfunkgebühren.

Gegen solche Reaktionen kann sich der SWR nicht wehren. Doch Ansprachen vom Konzertpodium, wie neulich in Stuttgart, haben künftig zu unterbleiben, ordnete der Hörfunkdirektor an. Ein Protestkonzert des SO in Freiburg mit dem Chefdirigenten François-Xavier Roth und seinen Vorgängern Michael Gielen und Sylvain Cambreling hat der Intendant untersagt. Cambreling hält eine Fusion für „Blödsinn“, das wäre eine „absolut inkompetente Entscheidung“, und angesichts der Orchesterprofile „tödlich“. Das wird er am kommenden Freitag dem Intendanten ins Gesicht sagen können. Beide nehmen an einer Podiumsdiskussion der Frankfurter Musikmesse teil.

Eine Managementberatung wurde eingeschaltet

Von einer „völlig ergebnisoffenen“ Diskussion über die Umsetzung des Kürzungsziels von 25 Prozent, wie angekündigt wurde, kann angesichts der Fakten nicht die Rede sein. Viel früher, als bisher angenommen, war der SWR in dieser Sache aktiv: seit dem Herbst 2010. Daran beteiligt wurde die Münchner Managementberatung Metrum, deren Papier zur „Strategischen Weiterentwicklung“ der Orchester der Stuttgarter Zeitung vorliegt.

Zehn Handlungsmodelle werden da gelistet, vom Stellenabbau oder einer Partnerschaft mit dem Festspielhaus Baden-Baden bis zur Fusion des RSO mit dem Staatsorchester in Stuttgart. Nicht völlig abwegig wären zusätzliche Rechtsträger wie Land und Stadt. „Da eine Erhöhung der Kulturetats aber als eher unwahrscheinlich angesehen werden muss, würde diese Idee immer auf Kosten anderer Orchester in Baden-Württemberg gehen“, heißt in dem Papier. Trotzdem wollen sich die Bürgermeister von Stuttgart und Freiburg noch in diesem Monat mit dem Intendanten sowie dem Hörfunkdirektor treffen. Verständlich. Das kulturelle Angebot der betroffenen Städte ist bedroht.

Am Ende bleiben für die Berater zwei „Strukturoptionen“. Die eine nennen sie das Modell „Kontinuität und Ergänzung“, ein fusioniertes Orchester, das weiterhin in zwei Formationen auftritt, bei kontinuierlichem Personalabbau aber auf gegenseitige Aushilfe angewiesen wäre. Verdikt: die jeweiligen Orchester befänden sich „spätestens ab 2020 am Rande der Spielfähigkeit“. Die andere Fusionsvariante heißt „Spitzenorchester plus“ mit einer Stellenzahl von 145 Musikern im Jahr 2020/25. Das würde das Orchester zu einem der größten Deutschlands machen, noch vor den Berliner Philharmonikern.

Der Sender träumt von einem Spitzenorchester

Neunzig Konzerte pro Jahr könne dieses Spitzenorchester geben, prognostiziert Metrum. „Im Übergang könnten sich die Musiker, die zeitweise nicht in der großen Orchesterbesetzung eingeteilt werden, in unterschiedlichen Ensembles formieren.“ An den bisherigen Standorten wäre es mehrtägig präsent. Risiko sei dabei, dass der Konzertmarkt für Spitzenorchester gut besetzt sei, man würde abhängig sein von einem „weltweit anerkannten“ Chefdirigenten.

Für Peter Boudgoust ist das die plausibelste Option, wie er gestern bei der Sitzung des Rundfunkrats wiederholte. Die Begründung zeugt jedoch von bemerkenswerter Metierferne. Nur so sei man in der Lage, „die wesentlichen Profile der beiden heutigen Orchester auch langfristig zu erhalten“. Wie soll das gehen? Ein Orchester, aber zwei Klangprofile, zwei Spielkulturen, zwei Repertoireschwerpunkte?

Nach dem Krieg haben die beiden Orchester wie alle anderen der deutschen Rundfunkhäuser ihre Arbeit zunächst mit drei Zielen aufgenommen: Aufbau eines Schallarchivs, Rehabilitierung des während der NS-Zeit verbotenen Repertoires und die Verbreitung und Förderung zeitgenössischer Musik. Besonders das Südwestfunk-Orchester in Baden-Baden (das heutige SO) hatte mit seinen engagierten Chefdirigenten Hans Rosbaud, Ernest Bour und Michael Gielen bald den Ruf eines der Moderne besonders verpflichteten Ensembles. Der Mythos Donaueschingen verdankt sich auch ihm – bis in die neunziger Jahre waren die Baden-Badener das Neue-Musik-Orchester, regelmäßig im Aufnahmestudio und viel auf Reisen, denn im beschaulichen Heimatort war kaum für Avantgarde aufgeschlossenes Publikum zu fischen.

Ein Orchester, viele Uraufführungen

1996 änderte sich einiges. Das neu errichtete Konzerthaus in Freiburg verhalf dem SO zu einer ordentlichen Spielstätte, größerem Publikum und 1998, bei der Verschmelzung von SWF und SDR, zum neuen Namen. Im Supersender herrschte nun direkte Konkurrenz mit dem RSO. Auf die eigene Note kam es an. Die Stuttgarter waren zwar auch für Uraufführungen gut, doch zur Propagierung fehlte ihnen der mythische Ort Donaueschingen. Mit Sergiu Celibidache als Chefdirigenten hatte man rückwirkend gesehen den Kultfaktor auf der Habenseite, den man von 1998 bis 2011 mit Roger Norrington weiter pflegte – allerdings mit einer Celibidache völlig entgegengesetzten Ästhetik. Sei’s drum, der „Stuttgart Sound“, die historisch informierte Aufführungspraxis war ein Argument, womit der Senderspitze klargemacht wurde: Seht her, hier habt ihr zwei Orchester mit klaren Profilen, im Süden Moderne, im Norden Historismus.

Die Saisonprogramme seit 2002/03 differenzieren das Bild. In diesen zehn Jahren liegen Baden-Baden/Freiburg und Stuttgart mit 75 respektive 76 Uraufführungen und vier zu sieben deutschen Erstaufführungen gleichauf. Bei Werken der Nachkriegsavantgarde toppt das SO jedoch die Stuttgarter: 251 zu 159. Wahrscheinlich wird hier künftig eine Angleichung stattfinden. Gar so weit liegen die Vorlieben der 2011 installierten Chefdirigenten Stéphane Denève und François-Xavier Roth nicht auseinander. Beide werden, das scheint sicher, fünf Jahre bei ihren Orchestern bleiben können, bevor fusioniert wird. Öffentlichkeit und Rundfunkrat sind nun gefragt, wie es weitergehen soll. Lajos Lencsés spitzt es zu: „Soll es genügen, dass das ,Volk der Dichter und Denker‘ allabendlich glücklich lallend mit dem Bier vor dem Fernseher hockt?“