Martin Schulz wird bei der SPD wie ein Erlöser gefeiert. Bei „Anne Will“ (ARD) präsentiert sich der vom Parteivorstand nominierte Kanzlerkandidat als Kümmerer, der die Menschen mit all ihren Alltagssorgen versteht. Konkrete Ziele gibt er noch nicht preis.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Es mag sein, dass Martin Schulz an den kommenden 237 Tagen bis zur Bundestagswahl im Schnitt noch fünfmal täglich gefragt wird, ob er Rot-Rot-Grün oder eine große Koalition bevorzugt. Und wenn er jeweils nur fünfmal antwortet, dass er die SPD zur stärksten Partei machen will, damit sich die gesamte Konkurrenz nach ihr richtet, könnten die Genossen für die rechnerisch fast 6000 identischen Antworten einen Sprachautomaten aufstellen. Aber irgendwann dürfte es dann auch der Letzte im Lande vernommen haben, was Schulz anpeilt.

 

Kanzlerkandidat zu sein, das merkt er schon am Tag seiner Nominierung durch den Parteivorstand, ist ein Knochenjob. Speziell, wenn man in der Talkshow „Anne Will“ (ARD) als Sologast Rede und Antwort stehen muss, nach zuvor bei „Was nun, Herr Schulz?“ (ZDF) die fast gleichen Fragen im Schnelldurchlauf abgearbeitet wurden. „Wir haben es schwer miteinander heute Abend“, seufzt Schulz zwischendurch, was er aber selbst nicht so meint. Der 61-Jährige surft seit vorigem Dienstag auf einer Woge sozialdemokratischer Begeisterung – das gibt ihm mehr Gelassenheit, als man es vom früheren Präsidenten des Europaparlaments gewohnt ist.

Die Strategie lautet: „Der Typ versteht, wie es uns geht“

Trotz aller bemüht kritischen Nachfragen Anne Wills gelingt es ihm leicht, seine Botschaften durchzubringen. Zumal er ja „sehr präzise Aussagen“ macht und „nicht um den heißen Brei herumreden“ will beim Versuch, „die Probleme beim Namen zu nennen“. So sieht er es selbst. Allerdings bleibt Schulz bei konkreten Inhalten noch höchst unpräzise – da nennt er nicht eine Forderung, die ihm nach der Sendung noch ein Genosse vorhalten könnte. Ein höherer Mindestlohn ist jedenfalls keine Überraschung, den sieht das Gesetz ohnehin vor.

Vielmehr sollen die Menschen erkennen: „der Typ versteht, wie es uns geht“, weil er sich für deren Alltagsprobleme interessiert. Dass er sich um den Busfahrer, den Altenpfleger, den Bäckermeister und den Polizisten kümmern will, wird man im Wahlkampf noch unzählige Male hören – wenn auch hoffentlich nicht mit fiktiven Namen versehen, so wie es Peer Steinbrück einst versucht hat. Die zur Linkspartei geflüchtete Genossin aus Essen-Altendorf, die Anne Will nun präsentiert, würde dem „Typen“ wohl auch irgendwann glauben, wenn er nur weiterreden dürfte. „Schau mir in die Augen – und gib mir den Vertrauensvorschuss“, sagt Schulz und kann dennoch voll verstehen, dass die Frau ihre Probleme damit hat, der SPD noch mal zu vertrauen.

Das gleiche Schicksal wie Barack Obama

Dass er die Sorgen der Menschen in den Mittelpunkt seiner Politik stellen will, betont er in unterschiedlichen Formulierungen. Von Angela Merkel unterscheidet er sich damit rhetorisch nicht. Auch greift Schulz die Kanzlerin nie frontal an. Dass Merkel die „geschäftsführende Vorsitzende einer sozialdemokratisch geführten Regierung“ sei, ist seine schwerste Anklage. Dieser moderate Ton könnte ein Signal für einen mit Anstand geführten Zweikampf sein. Auch den Seitenhieb vom Mittag im Willy-Brandt-Haus, ein Bundeskanzler brauche Empathie, bezieht Schulz in der Talkshow rasch wieder ganz auf sich.

Mit Vorbehalten geht er in den ersten Tagen seiner (designierten) Kanzlerkandidatur locker um. „Dass ich keine Regierungserfahrung habe, lese ich oft“, sagt Schulz. „Das Schicksal teile ich mit Barack Obama.“ Ähnlich entwaffnet er Anne Will beim Vorwurf, dass er in Brüssel den Menschen in seiner Heimat bei Aachen entrückt sei. „Ich wohne da“, gibt Schulz schlicht zurück und beginnt, seine Nachbarn aufzuzählen.

Schulz war mal Buchhändler in Würselen, ist sehr belesen und hat zuvor im ZDF „Höllensturz. Europa 1914 bis 1949“ des britischen Historikers Ian Kershaw empfohlen. Nun soll er aus dem „Stern“-Interview mit Sigmar Gabriel eine Passage seines „Freundes Sigmar“ wiedergeben. Als Vorleser der Republik gibt Martin Schulz schon mal eine erstklassige Figur ab.