Selten hat man eine solch klare Analyse vernommen: Helmut Schmidt mahnt auf dem SPD-Parteitag, Europa wieder miteinander zu versöhnen.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Berlin - Er braucht den Jubel nicht. Als der Vorsitzende Sigmar Gabriel den Rollstuhl nach der einstündigen Rede vorne an den Bühnenrand schiebt, verharrt Helmut Schmidt nur zwei, drei Sekunden. Kurz führt er die Hände in Demut vor dem Gesicht zusammen. Dann stößt er das Gefährt mit dem Gehstock in Richtung Rampe - als Zeichen, die Bühne rasch zu verlassen. Vermutlich wird er nie wieder eine solche Rede halten, aber der Altkanzler möchte hier nicht ausgestellt werden.

 

Längst haben sich die 480 Delegierten zum rhythmischen Applaus erhoben, doch er lässt kein Lächeln zu. Der Anlass ist dem fast 93-Jährigen zu bedeutend: Soeben hat er sein politisches Vermächtnis abgeliefert. Nun wird er wieder an seinen Platz gerollt, wo er sich - weil der Beifall einfach nicht enden will - erschöpft eine Mentholzigarette anzündet. Der Sauerstoff mag noch so dünn sein in dem angesichts von 9000 Anmeldungen hoffnungslos überfüllten Saal, Helmut Schmidt darf sich das herausnehmen. Rauch steigt auf - die Delegierten johlen.

Schmidt schlägt den ganz großen Bogen

In der Bundestagsfraktion ist er häufiger zu Gast, doch auf dem Bundeskongress ist er seit April 1998 - als Gerhard Schröder zum Kanzlerkandidaten gekürt wurde - nicht mehr aufgetreten. Schmidt hat, so wird berichtet, in seinem Herausgebervertrag mit der "Zeit" eine Klausel, wonach er auf keinem Parteitag reden dürfe. Deswegen haben sie ihn diesmal vor der offiziellen Eröffnung ins Programm genommen. Doch die Rede in Berlin ist mehr als eine Ouvertüre - sie ist eine Verpflichtung für die SPD, die Gräben, die sich in der Krise in Europa aufgetan haben, wieder zu schließen.

Selten hat man eine solch klare und historisch hergeleitete Analyse vernommen. Schmidt schlägt den ganz großen Bogen, um deutlich zu machen, dass Deutschland die Nachbarn "an der Peripherie" nicht wieder unter seiner zentralen Machtposition leiden lassen dürfe. Das Vertrauen in die Verlässlichkeit der deutschen Politik sei beschädigt. Der Satz von Volker Kauder (CDU), dass Deutsch gesprochen werde in Europa, das Gerede von der Verhütung einer Transferunion, aber auch die Auftritte von Außenminister Guido Westerwelle an den globalen Krisenherden statt in Europa - "all dies ist bloß schädliche deutschnationale Kraftmeierei", sagt Schmidt. "Wenn wir uns verführen ließen, eine Führungsrolle zu beanspruchen, würden sich die Nachbarn dagegen wehren - und Deutschland würde in eine Isolation verfallen."

"Mitfühlendes Herz gegenüber unseren Partnern"

Die Kanzlerin lässt er unerwähnt, doch meist ist klar, gegen wen sich seine Attacken richten. "Wir brauchen ein mitfühlendes Herz gegenüber unseren Partnern", rät Schmidt. "Das gilt ganz besonders für Griechenland." Weitere Schulden aufzunehmen sei da unvermeidlich. Ohne Wachstum könne kein Staat seinen Haushalt sanieren. "Wir Deutschen dürfen uns dem nicht nationalegoistisch versagen." Das Gerede von der Krise des Euro hält er ohnehin für "leichtfertiges Geschwätz" von Journalisten und Politikern. Der Euro sei stabiler als der US-Dollar und als es die D-Mark in ihren letzten zehn Jahren gewesen sei.

Mehr noch als Merkel trifft Schmidts Zorn die "Herde von hochintelligenten und zugleich psychoseanfälligen Hasardeurspielern" an den Finanzmärkten, die er seitvielen Jahren "Raubtierkapitalisten" nennt und die die politisch Verantwortlichen nun "zu Geiseln genommen haben". Denn das EU-Parlament habe keinen erkennbaren Einfluss auf die Krisenbewältigung. Die Bankenlobby habe bisher alle durchgreifenden Maßnahmen verhindert. So "wird es hohe Zeit, sich dagegen zu wehren", drängt Schmidt die Sozialdemokraten um Martin Schulz und gleichsam alle Fraktionen im Parlament zum "Aufstand".

Es ist der Tag von Helmut Schmidt

So ist dies nicht der Tag von Sigmar Gabriel - der soll erst am Montag wiedergewählt werden. Es ist im Grunde auch nicht der Tag von Frank-Walter Steinmeier, obwohl der später den Leitantrag zur Europapolitik einbringt. Und es ist erst recht nicht der Tag von Peer Steinbrück, Schachpartner und Co-Autor von Helmut Schmidt, den dieser keinesfalls erwähnt, wie manche gehofft haben mögen. Nicht einmal ansatzweise mischt sich der Altkanzler von dieser Bühne aus in den internen Dreikampf um die Kanzlerkandidatur ein - auch wenn er am liebsten seinen Freund Steinbrück als Fackelträger sähe, weil dieser "es kann".

Umso mehr ist es der Tag von Helmut Schmidt. Wie kaum ein anderer Genosse verkörpert der 92-Jährige die deutsche Sozialdemokratie. Gleich zu Beginn erzählt er, wie er auf den Tag genau vor 65 Jahren mit seiner Frau Loki auf dem Boden kniend Plakate für die SPD in Hamburg-Neugraben gemalt hat. 68 Jahre war er mit ihr verheiratet, dann verlor er seine treue Gefährtin im Oktober vorigen Jahres. Nun trägt er ihren Ehering neben dem seinigen.

Der Parteitag hat noch nicht begonnen, da hat er seinen Höhepunkt schon überschritten. "Die Aufholjagd der SPD hat begonnen", trompetet die NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zur offiziellen Eröffnung und arbeitet sich im üblichen Ton an Punkten ab, die ihr Vorredner so einleuchtend zusammengeführt hatte. Tagespolitik kann ziemlich ernüchternd sein.