Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz will die Agenda 2010 aufweichen. Dabei gilt die Sozialreform von Exkanzler Schröder als ein Grund für die wirtschaftliche Erholung. Roland Pichler

Berlin - Kaum eine andere Sozialreform in Deutschland ist so umstritten wie die Agenda 2010. Als der frühere Kanzler Gerhard Schröder (SPD) am 14. März 2003 im Bundestag seine Pläne vorstellte, waren viele Sozialdemokraten entsetzt. „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“, sagte Schröder im Parlament. Vor allem die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe zu Hartz IV führte zu Protesten. Schröder setzte durch, dass die unter 55-Jährigen seinerzeit höchstens zwölf Monate lang das Arbeitslosengeld I beziehen konnten. Das löste auch in der Mittelschicht Ängste aus, dass eine Phase der Erwerbslosigkeit schnell zur Verarmung führen könne. Mit den Reformen wollte Schröder Deutschland wieder an die Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa führen. Das ist auch gelungen. Es ist nicht das erste Mal, dass die damalige Reform zurückgedreht worden ist. Dafür spricht sich auch der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz aus. Er will erreichen, dass langjährige Beschäftigte wieder länger Anspruch haben sollen auf das Arbeitslosengeld I.

 
Was ist die Agenda 2010?
Unter dem Motto „Mut zur Veränderung“ wollte Schröder den Reformstau in Deutschland beenden. Vor 14 Jahren befand sich das Land in einer langen Phase mit Nullwachstum. Weil die Arbeitslosigkeit stieg, geriet Schröder unter Druck. Nachdem der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zuvor eine Blaupause für eine Reformagenda vorgelegt hatte, entschied sich Schröder dafür, einige der unpopulären Ideen umzusetzen. Schon in den Jahren davor hatte die sogenannte Hartz-Kommission ihre Arbeit aufgenommen und legte Vorschläge zur Neuordnung des Arbeitsmarktes und der Bundesagentur für Arbeit vor. Zunächst wurden Minijobs attraktiver gemacht. Auch Existenzgründer wurden stärker gefördert. Mit der Agenda 2010 legte Schröder ein Konzept vor, mit dem die Lohnnebenkosten gesenkt werden sollten – dies sollte mit kürzeren Bezugsfristen für das Arbeitslosengeld I erreicht werden. Teil der Agenda ist auch, die Anreize zur Aufnahme von Arbeit zu erhöhen. Nach dem Prinzip „Fördern und Fordern“ sollten Langzeitarbeitslose, die zuvor in der Sozial- und Arbeitslosenhilfe betreut worden sind, in einem Leistungssystem zusammengefasst werden. Alle Langzeitarbeitslosen bekommen seitdem den Hartz-IV-Regelsatz, welcher der früheren Sozialhilfe entspricht. Dies trug dazu bei, dass viele Bürger die Agenda 2010 mit sozialen Kürzungen verbinden. Zur Reform gehörte beispielsweise auch eine Liberalisierung der Handwerksordnung.
Wurden die Ziele erreicht?
Die Agenda-Politik kostete Schröder im Jahr 2005 die Kanzlerschaft. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel löste ihn ab. Aus wirtschaftlicher Perspektiver war das Programm ein Erfolg. Darin sind sich die Ökonomen einig. Im Ausland gilt die Agenda-Politik als ein erfolgreiches Beispiel für Strukturreformen. Schon im Verlauf des Jahres 2005 gewann die wirtschaftliche Dynamik wieder an Fahrt. Bis zur Finanzkrise folgten Jahre des Aufschwungs. Auch nach der Krise 2009 fasste Deutschland ökonomisch schnell wieder Tritt. Das führen Wirtschaftsexperten führen dies auch auf die Agenda-Politik zurück.
Wie entwickelt sich die Arbeitslosigkeit?
Die Experten sind sich aber auch einig, dass der Aufschwung in Deutschland nach der Agenda nicht allein auf die Sozialreformen zurückgeführt werden kann. Anteil daran hatte auch die maßvolle Lohnpolitik der Gewerkschaften. Gleichwohl trugen die Sozialreformen dazu bei, den Druck zur Aufnahme einer Arbeit zu erhöhen. Früher war es möglich, längere Zeit mit Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe zu überbrücken. Dies führte auch dazu, dass diese Sozialleistungen von Unternehmen zu Vorruhestandsprogrammen umgewidmet worden sind – auf Kosten der Beitragszahler. Die Arbeitslosenzahlen sind heute auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung gefallen. Im Januar 2017 waren 2,77 Millionen Menschen erwerbslos. Im Jahr 2005 waren noch mehr als fünf Millionen Menschen ohne Arbeit.
Wann wurde die Agenda entschärft?
Es ist nicht das erste Mal, dass die Politik die einstige Agenda-Politik wieder zurückschraubt. Die Linkspartei fordert dies seit ihrer Gründung. Schon 2006 sprachen sich CDU-Politiker für längere Bezugsfristen beim Arbeitslosengeld I aus. Auf diesen Zug sprang damals der SPD-Vorsitzende Kurt Beck auf. Die große Koalition entschied damals, die Bezugsfrist für das Arbeitslosengeld I wieder zu verlängern. Arbeitnehmer, die unter 50 sind, können maximal zwölf Monate Arbeitslosengeld I beziehen, das aus den Beiträgen der Arbeitslosenversicherung finanziert wird. Danach müssen sie das steuerfinanzierte Arbeitslosengeld II (Hartz-IV) beantragen. Versicherte von 50 bis 54 Jahre können das Arbeitslosengeld I 15 Monate beziehen. Von 55 bis 58 Jahren sind es 18 Monate. Wer 58 Jahre und älter ist, erhält die Leistung bis zu 24 Monate lang. Die von Schröder eingeführten Grenzen sind längst nach oben gesetzt worden. Der SPD-Kanzlerkandidat Schulz lässt bisher offen, was er genau ändern will.
Ist das Thema noch so brisant?
Die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I spielt wohl nicht mehr die entscheidende Rolle. Ein Grund ist die steigende Erwerbstätigkeit älterer Menschen. Anders als früher sind inzwischen mehr ältere Personen im Job. Wegen des demografischen Wandels versuchen viele Betriebe, ältere Beschäftigte zu halten. Die Veränderung zeigt sich in der Statistik: Im Schnitt gehen Ältere heute mit 62 Jahren in Rente. Im Jahr 2000 lag der durchschnittliche Rentenbeginn noch bei 60 Jahren. Diese Zahlen beziehen sich auf Alters- und Erwerbsminderungsrenten.