Wenn sich die Aufmerksamkeit der Eltern nur um die eigene Sucht dreht, leiden die Kinder. Viele schämen sich und gaukeln eine heile Welt vor. Die Suchtberatungsstellen stehen vor einer Herausforderung.

Lokales: Sybille Neth (sne)

Stuttgart - Stuttgart - Manchmal bleibt die Mutter die Nacht über weg. Wenn sie morgens wiederkommt, legt sie sich ins Bett und schläft den ganzen Tag über. Ihre Tochter Sarah macht dann das Frühstück und die Vesperbrote für sich und den kleinen Bruder, bringt ihn zum Kindergarten und beeilt sich, damit sie rechtzeitig in der Schule ist. Die Neunjährige übernimmt die Rolle der alleinerziehenden Mutter, die Alkoholikerin ist, und sie spielt der Welt ein intaktes Familienleben vor, weil ihr die Situation peinlich ist.

 

Sarahs Geschichte hat die Familientherapeutin Miriam Klein aufgeschrieben. Sie steht täglich mit Kindern wie Sarah in der Caritas-Beratungsstelle Pro Kids in Kontakt. Es ist die einzige Einrichtung in der Stadt, die sich der Not und der Ängste von Kindern annimmt, die mit suchtkranken Eltern aufwachsen.

Vergessene Kinder

In ihrem aktuellen Drogen-und Suchtbericht geht die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU), davon aus, dass drei Millionen Kinder mit mindestens einem suchtkranken Elternteil aufwachsen. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (BAJ) spricht von „vergessenen Kindern“, denn die Aufmerksamkeit ihrer Eltern kreist vollständig um die Sucht. Das ist auch so, wenn nur ein Elternteil betroffen ist, weil sich dann alles um diesen dreht.

Die Spendenaktion „Hilfe für den Nachbarn“ begegnet diesen Kindern meist indirekt, wenn die beratende Einrichtung einen Spendenantrag für Schulmaterial, Nachhilfe oder den Jahresbeitrag im Sportverein stellt. Aber auch aus Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen kommen Bitten um Spenden für Kinder, die nicht mehr zu Hause leben können. So wie jenes Mädchen, dessen Schicksal auf dieser Seite unter der Fallnummer 2 vorgestellt wird.

Die Inobhutnahme ist das äußerste Mittel des Jugendamtes, wenn das Kindeswohl ernsthaft gefährdet ist. Ansonsten sollen die Kinder bei ihren Eltern bleiben, und die Familie soll betreut werden. „Blut ist dicker als Wasser“, zitiert Uwe Collmar den sozialpädagogischen Grundsatz. Er leitet die Beratungsstelle Release direkt, die 550 substituierte Drogenabhängige betreut. Sie hat auch die Kinder der Klienten im Fokus.

Kinder ohne Vertrauen

In der Regel werden die betreffenden Familien mehrmals in der Woche von einer Familienhelferin des Jugendamtes unterstützt. Dazu muss eine Beratungsstelle wie Release die Eltern jedoch erst einmal überzeugen. Viele haben Angst vor der Behörde, nicht zuletzt weil sie in ihrer eigenen Kindheit negative Erfahrungen mit ihr gemacht haben.

„Wir müssen ein Gefühl dafür entwickeln, wann die Lebenssituation unserer Klienten zu kippen beginnen könnte“, beschreibt Collmar die Aufgabe. In diesem Fall wird interveniert, und die Kinder kommen zum Beispiel in eine Pflegefamilie. Die Eltern stammen oft selbst aus zerrütteten Verhältnissen, denn Kinder mit einem familiären Suchthintergrund werden drei-bis viermal häufiger abhängig. Viele sind entwicklungsverzögert, haben Gewalt erfahren und zeigen emotionale Störungen. Aus negativer Erfahrung haben sie gelernt, dass sie niemandem vertrauen können, denn auf suchtkranke Eltern ist kein Verlass. Vertrauen ist aber das Wichtigste in der Kindheit.

Aufklärung über die Sucht

Pro Kids bietet, angegliedert an die Suchtberatungsstelle der Caritas, seit zehn Jahren Programme für Kinder an, um diese zu entlasten. Im vergangenen Jahr gab es Kontakte zu 255 Kindern und Jugendlichen. Davor kommt stets die Überzeugungsarbeit bei den Eltern, damit diese es erlauben, dass ihre Sprösslinge in der Gruppe über die belastete Familiensituation reden dürfen – dass das Tabuthema Sucht gebrochen wird. „Manche Eltern denken, dass die Kinder es nicht mitbekommen, dass sie abends trinken“, sagt Miriam Klein von Pro Kids. Die Widerstände seien bei Alkoholikern oft größer als bei Drogenabhängigen, die im Substitutionsprogramm sind. „Diese haben den ersten Schritt ja schon gemacht. Die Kinder müssen geschützt werden. Daran arbeiten wir beharrlich“, betont sie. Mit den Acht- bis Zwölfjährigen wird offen über Sucht und ihre Erscheinungsformen gesprochen. Ihre Probleme drücken die Kinder in Rollenspielen oder in ihren Bildern aus.

Engmaschige Kontrollen nach der Geburt

„Würden wir nicht offen darüber reden, würden wir genauso weitermachen, wie es in der suchtbelasteten Familie der Fall ist“, erklärt die Familientherapeutin. Die Pro-Kids-Mitarbeiter suchen darüber hinaus auch im Stadtteil nach Freizeitmöglichkeiten für die Kinder: Sport-, Musik- und Kreativangebote. Die eigenen Gruppen und Kurse laufen auch in den Ferien weiter. „Wir gehen zum Beispiel mit den Kindern auf den Pferdehof“, berichtet Miriam Klein. Babys und Kleinkinder fallen aus der Betreuung der Beratungsstelle heraus, weil dafür nicht ausreichend Kapazitäten vorhanden sind. Für die Kleinsten ist die Aufmerksamkeit des sozialen Umfeldes gefordert. „Wir wollen alle Erzieher, Lehrer und Träger der Jugendhilfe für das Thema sensibiliseren“, betont sie, und Uwe Collmar unterstreicht, dass die Sozialpädagogen eine große Verantwortung haben, schon bevor ein Kind geboren ist. „Wenn wir bemerken, dass eine Klientin schwanger ist, wirken wir auf sie ein, dass sie das Jugendamt als Partner annimmt. Die Kontrollen müssen dann sehr engmaschig sein.“

Hilfe für den Nachbarn

Das Spendenkonto:
IBAN DE53 6005 0101 0002 2262 22
BIC SOLADEST600
Kennwort: „Hilfe für den Nachbarn“

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