Es ist ein sinnvoller Zeitvertreib – einige Berufspendler nutzen die Fahrt von Tübingen nach Stuttgart für einen Französischkurs. Die Organisation übernimmt die VHS Reutlingen.

Tübingen - Alle Reisenden im Zug von Tübingen nach Stuttgart kam am Dienstag früh kurz nach sieben Uhr eine außergewöhnliche Ansage zu Ohren: „Guten Morgen, Bonjour, wir begrüßen heute ganz besonders unseren Französisch-Kurs auf seiner Jubiläumsfahrt, wir wünschen weiterhin viel Erfolg beim Französischlernen in unserem Regionalexpress.“ Drei Männer und zwei Frauen im 1. Klasse-Abteil lassen sich nur kurz ablenken, sie konzentrieren sich weiter auf einen Liedtext der französischen Sängerin Zaz, den es zu übersetzen gilt. Zu vernehmen ist der Titel der Sängerin des Nouvelle Chanson auch, die Lehrerin Irene Monreal-Wickert spielt ihn mit einem mobilen CD-Player vor. Die 1. Klasse-Abteile in älteren Waggons sind bei diesem Sprachkurs besonders beliebt, so bleiben andere Fahrgäste ungestört. Und umgekehrt stören die diese Schüler nicht.

 

In dem rollenden Klassenzimmer wird seit 15 Jahren Französisch zwischen Tübingen, Reutlingen und Stuttgart unterrichtet. Die Idee zu dem Projekt hatte Susanne Fuchs, Mitarbeiterin der Volkshochschule Reutlingen, vor knapp zwei Jahrzehnten – passenderweise während einer Bahnfahrt. „Damals habe ich von einem Management-Training in einem in einem französischen Zug gelesen“, sagt sie. Das erschien ihr als so effiziente wie sinnvolle Nutzung der Zeit im Zug. Sie überzeugte erst die Leitung der Volkshochschule und dann Vertreter der Bahntochter RAB.

Unterricht mit der Zehner-Karte

Flyer mit verschiedenen Sprachkursen wurden in den Zügen ausgelegt, doch nur für Französisch ließen sich genügend Teilnehmer finden. Das Prinzip ist simpel. Die Schüler lösen bei der VHS eine Zehner-Karte zu 62 Euro. Sie beinhaltet nicht nur zehn Schulstunden, sondern auch den Aufpreis für die Fahrt in der 1. Klasse. Auf diese Weise werden nur die tatsächlich genutzten Stunden berechnet, und über ein Monatsabo für die 2. Klasse verfügen die Teilnehmer ohnehin.

Die Terminorganisation übernimmt Irene Monreal-Wickert. Sie erfährt von jedem Schüler kurzfristig, welcher Wochentag ihm jeweils am liebsten ist. Und wenn mindestens drei der Wissensdurstigen den gleichen Tag nennen, findet genau dann der Unterricht statt. „Einen Wochentag festzulegen, hat sich nicht bewährt“,erklärt Organisatorin Fuchs. Urlaub, Krankheit, berufliche oder andere Termine würden der Kontinuität entgegenstehen.

Sprachkenntnisse für alle Fälle

„Ich habe im Urlaub gemerkt, wie wenig ich noch von meinem Schulfranzösisch konnte“, erzählt Walter Weissgärber. Er ist Mitglied der Geschäftsführung der Evangelischen Jugendsozialarbeit in Stuttgart. „Inzwischen kann ich meine neu erworbenen Sprachkenntnisse nicht nur in den Ferien, sondern sogar beruflich nutzen“, sagt er. Und er berichtet lächelnd von einer weiteren Auswirkung des Kurses: „Meine Kinder haben auf dem Kepler-Gymnasium in Tübingen Französisch als erste Fremdsprache gewählt“.

Es geht nicht um Hausarbeiten, Klassenarbeiten oder Abschlussprüfungen. „Klar, ich lege Wert auf Grammatik“, führt die Dozentin Monreal-Wickert aus. Aber wichtiger ist die gepflegte Unterhaltung in einer Fremdsprache. Wer nicht absoluter Anfänger ist, profitiert davon. Roland Brutscher, Mitarbeiter einer Stuttgarter PR-Agentur und seit zwölf Jahren bei der wöchentlichen Klassenfahrt dabei, beobachtet: „Auch hier fallen viele in das alte Schulverhalten zurück – es gibt den Streber und den Witze-Reißer“.

Wie wär’s mit Spanisch in einem Zug?

VHS-Mitarbeiterin Susanne Fuchs versucht derzeit, Interesse der Pendler für weitere Kurse zu wecken. „Für Spanisch sieht es gut aus“, lässt sie wissen. Als Roland Brutscher davon erfährt, sagt er ganz spontan: „Da mach’ ich auch mit“.

Für die Rückfahrt am Abend von Stuttgart nach Tübingen ist freilich noch kein passendes Programm gefunden worden. Zum konzentrierten Lernen ist man zu müd’, heißt es in der Runde. Vielleicht klappt es irgendwann mit einem Mental-, Yoga– oder Entspannungstraining. Und womöglich sogar mit anderen Orten für einen sinnvollen Zeitvertreib. Susanne Fuchs schweben Kurse in einem Flughafen-Terminal vor oder in Krankenhäusern. „Überall dort, wo Menschen viel Zeit haben oder lange warten müssen“.