Kanzlerin Merkel und Präsident Hollande haben an Charles de Gaulle erinnert, der den Grundstein für die deutsch-französische Freundschaft legte. Der Großmut des Generals fehlt Merkel und Hollande allerdings.

Ludwigsburg - So muss es sein in einer Stadt, die eine berühmte Filmakademie beherbergt. Die Aufführung ist ohne Fehl und Tadel, die Regie lehrbuchreif. Großes wird im Innenhof des Ludwigsburger Schlosses inszeniert. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef François Hollande feiern an diesem Samstag mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten, Winfried Kretschmann, 650 Ehrengästen und 3000 Besuchern ein halbes Jahrhundert deutsch-französischer Freundschaft und gedenken des Mannes, der sie möglich machte: Charles de Gaulle.

 

Der General, Staatsmann und Republikgründer hatte hier am 9. September 1962 dem Kriegsgegner die Hand zur Versöhnung gereicht. In einer legendären Rede an die Jugend pries de Gaulle die Deutschen keine 20 Jahre nach dem Ende des Holocaust als „großes Volk“, das „manchmal im Lauf seiner Geschichte große Fehler begangen hat“ und schloss mit dem fast prophetische Gabe verratenden Satz: „Die Zukunft unserer beiden Länder“ ist „der Grundstein, auf dem die Einheit Europas errichtet werden muss“.

Die letzten Minuten des Ludwigsburger Freundschaftsfestes gehören ihm, dem neben Napoleon und dem Sonnenkönig berühmtesten französischen Staatenlenker. Ein Finale furioso ist das. Selbst auf dem Großbildschirm verströmt der General noch Charisma. Die feste Stimme füllt den Schlosshof, der Blick scheint sie alle ins Visier zu nehmen – die sich an den Absperrgittern drängenden Bürger, die um den besten Aussichtsplatz rangelnden Kameraleute, die auf Hartplastikstühlen hockenden Honoratioren. In fast akzentfreiem Deutsch appelliert de Gaulle an die ehemaligen Kriegsgegner, einander näherzukommen, sich kennenzulernen, engere Bande zu schließen.

Bewegende Bilder von Kohl und Mitterand

Und als beeindruckten so viel visionäre Kraft und Kühnheit nicht genug in diesen Krisenzeiten, da man beides schmerzlich vermisst, spielt die Regie bewegende Bilder ein. Sie zeigen Helmut Kohl und François Mitterrand, wie sie im September 1984 auf einem deutschen Soldatenfriedhof nahe den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs von Emotionen übermannt werden. Hand in Hand stehen der Franzose, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, und der Deutsche, der im Zweiten Weltkrieg den älteren Bruder verloren hatte, in Douaumont an der Stätte des Todes. Das Orchester der Schlossfestspiele schmettert die Marseillaise, stimmt das Deutschlandlied an. Zuschauer recken Kameras und Smartphones in die Höhe, um den Augenblick festzuhalten. Und in der letzten Stuhlreihe sagt die 14-jährige französische Austauschschülerin Cécile Meyer mit verklärtem, fast schon verstörtem Blick: „Es ist schön.“

Der Himmel spielt gleichfalls mit. Der Nieselregen, der den roten Teppich aufquellen und Spalier stehende Polizisten wie begossene Pudel aussehen ließ, hat aufgehört. Die Sonne scheint, leuchtet das Geschehen aus bis in den letzten Schlosshofwinkel. Zuvor hatte selbst die oft so spröde Kanzlerin Gefühle gezeigt, Einblicke in Privates gewährt, erzählt, dass sie in jenem September 1962 in Brandenburg lebte, die deutsche Teilung ein Jahr nach dem Mauerbau besiegelt schien. Auch Hollande fand bewegende Worte. „Anstatt die Flamme der Freundschaft nur am Brennen zu halten, ist es unsere Pflicht, sie jeden Tag neu zu entzünden“, sagte der Staatschef, der zu Beginn seines Mandats nicht gerade entflammt schien für den deutschen Nachbarn und sich lieber Italien und Spanien zugewandt hatte. Hollande erinnerte daran, dass Deutschland und Frankreich vor ähnlich großen Herausforderungen stehen wie einst de Gaulle und Adenauer. Gewiss ist auf dem vom General gelegten Fundament längst eine durch Vielfalt wie Festigkeit beeindruckende Freundschaftsarchitektur entstanden.

Ein enges Netz von Städtepartnerschaften verbindet Deutsche und Franzosen. Das Deutsch-Französische Jugendwerk hat mehr als acht Millionen jungen Menschen die Möglichkeit eröffnet, das Nachbarland zu erkunden. Aber angesichts der Schuldenkrise und des schwindenden Vertrauens in Europa tue Kühnheit not, sagte Hollande und fügte hinzu: „Die Frage ist, ob wir sie aufbringen können.“ Immerhin scheint die Erkenntnis Platz zu greifen, dass Deutsche und Franzosen aufeinander angewiesen sind, dass es auch heute ohne den anderen nicht geht, soll Europa vorankommen.

Szenen einer Verunftehe vor barocker Kulisse

Zur Begrüßung tauschten Merkel und Hollande Wangenküsschen aus. Es folgten hier ein „lieber François“, dort ein „chère Angela“. Szenen einer Vernunftehe waren das, die Merkel und Hollande vor barocker Kulisse souverän darboten. Deutschland und Frankreich seien wie ein altes Paar, das manchmal die Orientierung verliere, sagte Hollande später noch – ein Hinweis darauf, dass die Vernunft die Oberhand gewonnen hat und der Staatschef gewillt ist, der deutsch-französischen Partnerschaft Priorität einzuräumen. Die Altvorderen hatten es da leichter. De Gaulle hegte aufrichtige freundschaftliche Gefühle für Konrad Adenauer, der wie er in geschichtlichen Kategorien zu denken verstand.

Die politischen Erben müssen mit weniger auskommen, gehen nüchterner zu Werke. Wo de Gaulle Großmut bewies, frönen sie zum Ausklang des Gedenktags dem Klein-Klein der Tagespolitik. Bei einer Pressebegegnung schreiten sie ab, was zwischen Deutschen und Franzosen strittig ist und auch nach dem Freundschaftsjubiläum strittig bleibt. Die Frage, wie viel Bankenaufsicht es in der EU geben und wann sie kommen soll, gehört dazu. Der Konflikt um Fertigungsstellen, Arbeitsplätze und unternehmenspolitische Mitsprache bei der geplanten Fusion des europäischen Luft- und Raumfahrtkonzerns EADS mit dem britischen Konkurrenten BAE-Systems ist auch nicht beigelegt. Erst später wird Merkel betonen, wie wichtig es sei, dass sich die Gruppe der Euroländer regelmäßig über Maßnahmen für mehr Wachstum berate.

Ein deutsch-französisches Liebespaar

Ein paar Straßenecken weiter versucht sich ein anderes Paar am Brückenschlag – die Deutsche blond wie Merkel, der Franzose dunkelhaarig wie Hollande. Mit der Verständigung tut es sich leichter als Kanzlerin und Staatschef. Es braucht keine Simultandolmetscher, keine Kopfhörer. Sonja Fuhrmann und Abdelhamid Benattallah sind zweisprachig, wechseln spielerisch von einem Idiom ins andere.

Ihre Beziehung gründet sich nicht auf politische Vernunft, sondern auf Liebe. Und Französisch lernt man, wie eine Redensart besagt, nun einmal am besten auf dem Kopfkissen. Hinzu kommt, dass die beiden in Ludwigsburg leben, wo deutsch-französisches Einvernehmen seit de Gaulles und Adenauers Zeiten ganz besonders gut gedeiht. Ende August waren sie mit Daris, dem knapp zweijährigen Sohn, aus der Weltstadt Berlin ins Schwäbische gezogen, wo Benattallah Arbeit gefunden hatte. Die gefürchtete Provinz erwies sich als „wunderbar frankophil“, wie die 37-jährige Fuhrmann erzählt. Allenthalben dringe einem Französisch ans Ohr, sagt sie. In Daris’ zehnköpfiger Kitagruppe wüchsen drei Kinder zweisprachig auf. Dank Filmakademie und mehrerer Programmkinos stehe die den Franzosen so kostbare siebte Kunst in voller Blüte.

Missverständnisse sind an der Tagesordnung

Was nicht heißt, dass Deutsches und Französisches in Ludwigsburg aufs Harmonischste ineinander aufgingen. Nicht nur in der hohen Politik knirscht es im deutsch-französischen Gebälk. Benattallah und Fuhrmann greifen beispielhaft heraus, was für die jungen Eltern das Nächstliegende ist: die Schul- und Vorschulerziehung. Abgründe tun sich da auf, Missverständnisse sind an der Tagesordnung. Von wegen französisches Laisser-faire und deutsche Disziplin! Wo deutsche Kindergärtnerinnen die freie Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit als vornehmstes pädagogisches Ziel in Ehren halten, versuchen französische Kolleginnen zuvörderst, Wildwuchs zu beschneiden, Rabauken Rücksichtnahme und Höflichkeit zu lehren. Daris geht in eine deutsche Kita, erfreut sich deutscher Freiheiten, darf in Parks oder im Wald herumtollen. „In der französischen Kindertagesstätte, die wir uns angeschaut haben, hätte Daris sich mit einem eingemauerten Hof begnügen müssen“, erzählt Fuhrmann.

Die deutsch-französische Freundschaft verbindet eben Nationen, die eine Menge unterscheidet. Darin liegt ihr Reiz, aber auch ihre Problematik. Hier der französische Zentralstaat mit einem Präsidenten an der Spitze, der sich fast monarchischer Machtfülle erfreut. Dort die Bundesrepublik, deren Politik das Ergebnis steter Kompromisssuche zwischen Koalitionspartnern, Bund und Ländern ist. Und während die Deutschen in Frankreich laut Umfragen Leichtigkeit und Lebenskunst vermuten, tut sich nach Ansicht der Franzosen das Nachbarland durch Schwerfälligkeit und Tiefgang hervor.

Die Kanzlerin hat recht. Damit die Freundschaft über den Rhein hinweg gedeihen könne, brauche es mehr als soziale Netzwerke, Facebook-Freunde und Like-it-Buttons, hat Merkel zu verstehen gegeben. Es heiße einander kennenlernen, was eben auch ein Lernen ist, sich auf geografisch zwar Nahes, in Sitten, Gebräuchen und Denkungsart aber oft erstaunlich Fernes einlassen. Während die Kanzlerin und Hollande ein Bad in der Menge nehmen, lächeln, Hände schütteln, Autogramme geben, zieht Florence Batonnier an einem Absperrgitter Festtagsbilanz. „Wir sind auf dem richtigen Weg“, sagt die Sprecherin des Deutsch-Französischen Jugendwerks. „Natürlich hätten wir uns zum 50. Jahrestag mehr gewünscht, Geschenke, mehr Geld für mehr Begegnungen zwischen Schülern, Studenten und Erwachsenen beider Länder etwa, aber es sind nun einmal schwere Zeiten.“