Das Stuttgarter Schauspiel startet mehrere Projekte, an denen sich die Stadtbewohner beteiligen sollen. Manche Bürger werden sich in nächster Zeit über seltsame Nachbarn wundern.

Stuttgart - Eine Stadt mit 600 000 Einwohnern ist immer in Bewegung. Menschen kommen und gehen, mieten Wohnungen und Häuser, ziehen hier ein und dort wieder aus. Nichts ist alltäglicher und unauffälliger als ein Umzug, sollte man meinen – doch dann kommt das Künstlerduo Hofmann & Lindholm aus Köln und versucht, diese Großstadtnormalität mit einer subversiven Aktion in Stuttgart zu unterlaufen. Wenn also, liebe Leser, Ende September eine dreiköpfige Familie in Ihre Nachbarschaft zieht, könnte es sich lohnen, die neuen Hausbewohner genauer unter die Lupe zu nehmen: Es könnten Leute sein, die nur so tun, als wären sie eine Familie, in Wirklichkeit aber dazu angeheuert wurden, bei Ihnen, liebe Nachbarn, gezielt Reaktionen auszulösen.

 

„Familie Weiß“ nennt sich das Projekt, das Hannah Hofmann und Sven Lindholm, beide Mitte vierzig, fürs Stuttgarter Schauspiel umsetzen werden – zu Saisonbeginn irgendwo in einem Mietshaus in Kessellage, dessen Adresse sie aus naheliegenden Gründen nicht verraten. Einzig die Familie Weiß wird Straße und Hausnummer erfahren, schließlich muss sie sich dort für ihr Täuschungsmanöver sechzig Tage lang einquartieren, vom 2. Oktober bis 30. November. Die Wohnung ist längst angemietet, was indes noch fehlt, sind die geheimnisvollen Mieter: Die „Familie Weiß“ wird aus Hunderten von Menschen bestehen, die als „Komplizen“ von Hofmann & Lindholm für das Projekt noch gecastet werden. Ihr Fake baut auf die Partizipation der Bürger – ähnlich wie jene anderen partizipativen Projekte, die das Schauspiel im Nord herausbringen will. Auch dafür sucht man derzeit noch Leute zum Mitmachen. Doch zurück zur weißen, völlig unbeschriebenen Familie und ihren beiden Erfindern.

Hannah Hofmann und Sven Lindholm arbeiten seit fünfzehn Jahren zusammen. Kennengelernt haben sie sich beim Studium der Theaterwissenschaften in Gießen, der Brutstätte des neuen deutschen Theaters, aus der auch Rimini Protokoll, She She Pop und René Pollesch kommen. Von Anfang an hat das Duo spartenübergreifend gearbeitet, grenzgängerisch zwischen Bildender Kunst und Hörspiel, Video und Stadtraumprojekt. Zu Letzterem zählt nun auch das Weiß-Projekt, das mit Bedacht eigens für Stuttgart konzipiert worden sei, wie Hannah Hofmann beteuert. „Eine Wohnung mit Leuten, deren Herkunft unbekannt ist und die womöglich zweifelhafte Absichten hegen: früher wären unsere Komplizen im Verdacht gestanden, Terroristen zu sein“, sagt die Künstlerin, „an diesen Aspekt der Stadtgeschichte wollen wir mit unserem Projekt bewusst anknüpfen.“

Verhaltenskodex in der Wohnung

Und was passiert, wenn die Nachbarn der Weißens, misstrauisch geworden ob der vielen Besuche am Tag, des häufigen Duschens in der Nacht, des langen Ausschlafens am Morgen, die Polizei rufen?

„Für diesen Fall haben wir einen Verhaltenskodex erarbeitet, der in der Wohnung bereitliegt“, sagt Sven Lindholm. Denn dass die Nachbarn nicht merken, dass neben ihnen nichts anderes als eine Inszenierung läuft, könnte schon sein: Jedes gecastete Familienmitglied wird zur Verschwiegenheit verpflichtet. Hofmann & Lindholm glauben deshalb, dass ihre Verschwörungsshow tatsächlich sechzig Tage lang unentdeckt bleiben könnte. „Wo endet die soziale Achtsamkeit? Wo beginnt die soziale Kontrolle? Das sind Fragen, die wir mit unserer Gratwanderung aufwerfen wollen“, sagt das Duo, dessen Fake öffentlich begleitet werden kann. Im Schauspielhaus-Foyer wird ein Videoschirm täglich Szenen aus dem fingierten Leben in der konspirativen Wohnung übertragen.

Aber nicht nur für die „Familie Weiß“ fahndet das Theater von Armin Petras noch nach Freiwilligen, sondern auch für den „Abschied von gestern“ – so heißt das zweite partizipative Großprojekt, mit dem in dieser Saison die Spielstätte Nord, das ewige Sorgenkind des Schauspiels, aufgepäppelt werden soll. Der Intendant höchstselbst wird dort im Januar einen ersten „performativen Block“ etablieren, der seinerseits aus drei Teilen besteht. Nacheinander sollen Witwen mit ihren Lebensgeschichten, junge Frauen mit Sonderbegabungen (wie Jonglieren, Tanzen, Zaubern) und zuletzt auch leidenschaftliche Köche mit vergessenen Rezepten zum Thema werden. Ob diese Alltagsmenschen dabei selber auf die Bühne kommen und wenn ja, auf welche Weise, das alles wird Petras gemeinsam mit den Beteiligten klären. Wer aber Interesse an diesem „Abschied von gestern“ hat, möge sich jetzt ebenso beim Schauspiel melden wie die Komplizen, die Lust auf die sich gerade bildende „Familie Weiß“ haben. Bereichernd könnten die hier wie dort gemachten Erfahrungen auf jeden Fall sein.