Gemischte Gefühle: der Intendant Armin Petras hat das erste Jahr am Stuttgarter Schauspiel hinter sich. Fast alles, was in den ersten Monaten der neuen Intendanz rausgekommen ist, war sehenswert. Und vieles, was folgte, zum Vergessen – eine Bilanz

Stuttgart - Was lohnt sich? Welches Stück soll ich anschauen? Welche Inszenierung besuchen? Das sind Fragen, die einem geübten Theatergänger auf Schritt und Tritt gestellt werden. Und das ist gut so, denn sie zwingen den sonst um abwägende Urteile bemühten Schlaumeier zu eindeutigen, unmissverständlichen Verbrauchertipps, auch jetzt im Fall des Stuttgarter Schauspiels von Armin Petras: Fast alles, was in den ersten Monaten der neuen Intendanz rausgekommen ist, war sehenswert. Und vieles, was folgte, zum Vergessen – so griffig und kundenfreundlich lässt sich das erste Jahr des aus Berlin gekommenen Theaterchefs bilanzieren.

 

Was schwach ausgeklungen ist, hat also stark begonnen: Wie ein Himmelsgeschenk kamen uns die Inszenierungen vor, mit denen der Neue seine Amtszeit eröffnete und das zuvor sanierungsbedingt brachliegende Schauspielhaus wieder ins Bewusstsein der Stadt rückte. Sechs Produktionen an einem Wochenende, darunter Goethes „Urgötz“ in der Regie von Simon Stolberg, Bergmans „Szenen einer Ehe“ von Jan Bosse sowie Tschechows „Onkel Wanja“ von Robert Borgmann: ein wuchtiges Paket, das dem Publikum einen Vorgeschmack aufs Kommende gab. Mit hohem Tempo haute das runderneuerte Ensemble eine Inszenierung nach der anderen raus und etablierte eine Spielweise, deren entfesselte Energie an diesem Ort schon seit Jahren nicht mehr zu spüren war. Während der Baustellenzeit hungerte das Publikum nach Theater. Jetzt badete es im Glück – und es badete weiter, als die auch überregional mit großer Sympathie begleitete Eröffnung schon längst vorüber war.

Zuschauer genossen virtuose Kunststücke

Die Zuschauer erfreuten sich an der Spielwut von Peter Kurth und Fritzi Haberlandt im „Versprechen“ nach Dürrenmatt, sie erquickten sich am Sprachwitz von Edgar Selge und Franziska Walser in Kleists „Zerbrochnem Krug“, sie ergötzten sich am Improvisationsfuror von Michael Klammer, Paul Schröder und Aenne Schwarz in Schillers „Räubern“ – und sie genossen all diese virtuosen Kunststücke mit der gleichen Begeisterung, die zuvor schon Astrid Meyerfeldt und Joachim Król entgegengebrandet war: Als Liebesschiffbrüchige verwandelten sie Bergmans „Szenen einer Ehe“ in ein tragikomisches Schauspielerfest, das vom Publikum gestürmt wurde – anders als „Onkel Wanja“, der häufig nur vor einem halb vollen Parkett über die Bühne ging. Schade, schade – nicht nur wegen der fabelhaften Katharina Knap als Sonja, sondern auch wegen der Intensität der Inszenierung, die zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde.

Dass unter dem neuen Chef wieder Leben in die Bude kam, wurde also bundesweit wahrgenommen und gewürdigt. Diese schöne Wiederbelebung war freilich nicht zuletzt auch Inszenierungen zu verdanken, die Petras aus früheren Jahren und anderen Theatern mitgebracht hatte. Den Zuschauern konnte das egal sein. Für sie war jede der rund zehn Übernahmen frisch wie am ersten Tag, zumal der Intendant fast nur gute Ware ausgesucht hatte: The best of Petras & Friends! Als das wunderbare Reservoir aber ausgeschöpft war, brachen doch bescheidenere Tage an. Zur Halbzeit drehte sich das Spiel, das war unübersehbar – und was man zuvor an Regisseuren schätzte, den fantasievollen Umgang mit Stoffen und Spielern, führte bei jungen Petras-Epigonen zu Abenden mit eklatanten dramaturgischen Schwächen. Tiefpunkt der Spielzeit: „Am Schwarzen Berg“, die Bühnenbearbeitung des Stuttgart-Romans von Anna Katharina Hahn. Das Buch kreist um Stillstand und Lähmung – und keine Fallhöhe, nirgends. Im Nord aber wurde daraus ein schlimmer Kunstunfall: ein nach antiker Größe strebendes Schweiß-und-Boden-Drama in neunzig schier unerträglichen Minuten.

Und doch, auch wenn der Zauber des Anfangs verflogen ist: Stuttgart hat, alles in allem, wieder überraschendes, aufregendes Theater mit hochmotivierten Spielern, und zwar dort, wo es hingehört, im Herzen der Stadt. Daran gibt es keinen Zweifel. Dafür sind wir dem neuen Hausherrn auch dankbar – und für das gute Dutzend Inszenierungen, die wir den Leuten weiterhin mit reinem Gewissen empfehlen werden.