Ist der ländliche Raum provinziell? Für Baden-Württemberg gilt das nicht: Das wirtschaftliche Wachstum war dort höher als in den Ballungsräumen. Doch jetzt kehrt sich das Verhältnis um. Siedlungsforscher rätseln warum.

Stuttgart - Andernorts, an der Nordsee vielleicht oder im Bayerischen Wald, kann man von Zahlen wie diesen nur träumen: Im Hohenlohekreis, im Nordosten Baden-Württembergs, gingen 2012 um 33,3 Prozent mehr Menschen einer Erwerbstätigkeit nach als 1992. Der ebenfalls ziemlich ländlich geprägte Kreis Heilbronn bringt es gar auf einen Zuwachs von 36 Prozent. In Schwäbisch Hall sind es 27,4 Prozent. Und so weiter.

 

Das zeigt, dass sich der ländliche Raum im Südwesten nicht zu verstecken braucht. Im Gegenteil. Die Wirtschaftskraft in der Fläche ist in diesem Zeitraum sogar stärker gewachsen als jene in den Ballungsräumen. Der Landkreis Esslingen zum Beispiel verzeichnete von 1992 bis 2012 einen Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen von nur 8,5 Prozent. Im Stadtkreis Karlsruhe waren es plus 5,7 Prozent, in der Landeshauptstadt Stuttgart sogar minus ein Prozent.

Hohe Lebensqualität im ländlichen Raum

Die Zahlen des Statistischen Landesamtes belegen, dass sich der ländliche Raum „durch eine hohe Lebensqualität und Wirtschaftskraft“ auszeichnet, wie das zuständige Ministerium von Alexander Bonde (Grüne) behauptet. 35 Prozent der Bevölkerung leben auf 70 Prozent der Landesfläche. Und das tun sie nicht schlecht. Rückgrat für die wirtschaftliche Entwicklung der Fläche ist die Industrie. „Vor allem viele leistungsfähige klein- und mittelständische Unternehmen zeichnen sich überwiegend durch eine hohe Innovationskraft aus und sind in ihrem Bereich oft führend auf dem Weltmarkt“, hält das Agrarressort weiter fest.

Diese Entwicklung ist aber in Gefahr.

Es war ein großes Anliegen aller bisherigen Landesregierungen, die Kluft zwischen Stadt und Land im Südwesten möglichst schmal zu halten. Schon früh wurde begonnen, Hochschulen auch fernab der Bildungshochburgen zu gründen, auf dass der Fachkräftenachwuchs nahe bei den mittelständischen Arbeitgebern ausgebildet wird. Die Versorgung mit Schulen aller Stufen wurde forciert. Schon der CDU-Ministerpräsident Lothar Späth hat in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts vorgelebt, dass auch „weiche“ Faktoren gepflegt werden müssen, damit Menschen gerne dort sind, wo sie leben; Kultur und Sport lagen ihm am Herzen.

Stadtflucht statt Landflucht

Aus all diesen Gründen haben die Menschen im ländlichen Raum keinen Grund gesehen, diesem den Rücken zu kehren. „In den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verlief die Veränderung von Beschäftigung und Bevölkerung im ländlichen Raum des Landes sogar meist günstiger als in den Verdichtungsräumen.“ Menschen verließen die Städte und zogen vor deren Tore oder gleich richtig hinaus aufs Land.

Das ist allerdings vorbei.

Der demografische Wandel sorgt seit einigen Jahren dafür, dass sich der Trend umkehrt. Das „könnte das bisher hohe Maß an wirtschaftlicher Prosperität und Lebensqualität im ländlichen Raum mittel- bis langfristig in Frage stellen“. Diesen Schluss ziehen Forscher des Instituts für Raumordnung und Entwicklungsplanung an der Universität Stuttgart aus ihren Untersuchungen. Sie waren vom Ministerium für den Ländlichen Raum beauftragt worden, sich das flache Land und dessen Zukunftschancen genauer anzusehen.

Es ist aber nicht allein die Tatsache, dass die Menschen immer älter werden und sich das Potenzial der Erwerbspersonen stark verringern wird, die den Wandel diktiert. In jüngerer Zeit ist ein verändertes Wanderungsverhalten vor allem junger Familien zu beobachten, das diesen umgekehrten Trend verstärkt. Sie zieht es wieder mehr und mehr in die Städte. Man spricht bereits von Re-Urbanisierung.

Kommunen müssen Vorsorge treffen

Die Gemeinden in der Fläche werden also doppelt in Mitleidenschaft gezogen. Die natürliche, demografisch bedingte Schrumpfung sorgt für einen Bevölkerungsschwund. Hinzu kommt die steigende Abwanderungstendenz der Jüngeren, vor allem jene im Ausbildungsalter. Dadurch wird das Negativwachstum noch verstärkt. Vor allem kleinere Gemeinden „ohne leistungsfähige Infrastruktur“ werden es mit dem Problem „einer forcierten Alterung mit weitreichenden Auswirkungen auf die örtliche Daseinsvorsorge“ zu tun bekommen, sagen die Forscher voraus.

Warum ist das so? Grundsätzlich werden große Städte für junge Menschen als Wohn- und Lebensort wieder attraktiver, wird spekuliert. „Denkbar ist auch, dass angesichts steigender Energiekosten Standorte mit guter Erreichbarkeit und Infrastruktur als Wohnorte präferiert werden“, schreiben die Forscher.

Diese Entwicklung könnte „das siedlungsstrukturelle Echo des Übergangs von der Industrie- zur Wissensgesellschaft“ sein, heißt es auf wissenschaftlich. Der bisherige ökonomische Erfolg der Provinz kann über ein Faktum nicht hinwegtäuschen: Der ländliche Raum besitzt weit weniger Wissenskapital als die Zentren. Und genau das könnte in der Wissensökonomie zu einem Nachteil werden.

Zu wenige Hochschulabgänger

Im Durchschnitt liegt der Anteil der Hochschulabsolventen unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Baden-Württemberg (2009) bei 11,2 Prozent. In den Verdichtungsräumen waren es aber 14,4, im eigentlichen ländlichen Raum hingegen nur 5,6 Prozent.

Trotz Internet und Kommunikationsrevolution sehen die Ökonomen im „personengebundenen Wissenstransfer“ einen wichtigen Standortfaktor im globalen Wettbewerb. Dieser sei in „verdichteten Siedlungsstrukturen“ nun mal einfacher zu bewerkstelligen. Die wissensintensive Produktion von Gütern und Dienstleistungen sei in großen Städten „mit ihren dichtebedingt überdurchschnittlichen Kontakt- und Austauschmöglichkeiten“ sowie der kompakten Hochschullandschaft begünstigt, glauben die Entwicklungsplaner.

Noch komplizierter wird die Sache dadurch, dass das Bild nicht in striktem Schwarz-Weiß gezeichnet werden kann. Es gab auch schon vor der Jahrtausendwende ländliche Gebiete, die keineswegs so erfolgreich waren wie andere. Es gibt aber auch heute noch Flächenregionen, die sich entgegen dem Trend sehr gut halten. Vor allem in Oberschwaben, etwa um Biberach herum, liegen etliche Gemeinden, die weiter nach vorne streben.

Kleinkindbetreuung bleibt Thema

Das macht natürlich auch die Handlungsempfehlungen an Kommunal- und Landespolitik einigermaßen unübersichtlich. Zwei Ansagen könnten freilich allgemein gelten: Ausschließlich auf die Zuwanderung von Menschen und die Ansiedlung von Unternehmen zu setzen, empfiehlt sich für Kommunalpolitiker nicht. Vielmehr müssten sie Sorge dafür tragen, dass sich ihre Gemeinde aktiv an die sich ändernden demografischen Randbedingungen anpasst.

Die Landespolitik hingegen muss die Frage beantworten, wie sie die Bildungseinrichtungen in der Fläche aufwerten kann. Maßnahmen in dem Zusammenhang könnten auch die Integration von Migranten begünstigen. Um schließlich Frauen den (Wieder-)Einstieg in ein qualifiziertes Berufsleben leichter zu machen, bleibt auch die Verbesserung der Kleinkindbetreuung ein Thema für Land und Kommunen.