Für Forscher und für historisch interessierte Laien: der Historiker Jörg Heinrich hat das Kaufbuch Cannstatt 1555-1582 neu veröffentlicht. In Kaufbüchern wurden früher Erwerb, Tausch oder die Vererbung von Haus und Hof eingetragen.

Bad Cannstatt - Ein Labyrinth von Zahlen, unendliche Kolonnen von Listen und Einträgen: Was bringt einen Menschen dazu, sich Jahre mit einem solchen Unikum zu beschäftigen, das zudem fast ein halbes Jahrtausend auf dem Buckel hat? Diese Frage amüsiert Jörg Heinrich: „Geschichtsschreibung lebt von Quellen. Sie sind das Elixier des Historikers. Es ist einfach faszinierend, eine fremde Welt an deren Quellen zu studieren.“

 

Und Cannstatt hat er in dieser Hinsicht als besonders ergiebig erfahren: „Der Ort hatte nie große Brände zu überstehen. Das hat dazu beigetragen, dass die Kaufbücher erhalten blieben. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten bietet Cannstatt so einen fast einmaligen Erhalt von Quellen aus der frühen Neuzeit und das in einer grandiosen Kontinuität.“ In Kaufbüchern wurden Erwerb, Tausch oder die Vererbung von Haus und Hof eingetragen. Beginnend 1555 und bis ins 19. Jahrhundert reichend, mit stolzen 30 Bänden an der Zahl. Den Erstling hat der aus Waiblingen stammende Historiker, der in Berlin lebt, im Auftrag und mit tatkräftiger Unterstützung von Pro Alt-Cannstatt erschlossen, also akkurat abgeschrieben, erforscht und mit Index versehen.

Cannstatt war ein großes Dorf

Überraschend war für Heinrich bei der Erforschung des Stoffes, „dass zu der Zeit fast die gesamte Bevölkerung an der Wirtschaft beteiligt war. Cannstatt war zu der Zeit fast ausschließlich landwirtschaftlich geprägt. Über Handel, Handwerk, Gewerbe findet man nur wenig“. Und so dürfte dann der Ort laut Heinrich dann auch in der frühen Neuzeit ausgesehen haben: „Fast jeder hatte Viecher, hatte seine Miste und seine Scheune im Hof. Cannstatt war ein großes Dorf.“ Und das halbe Jahrhundert, das Heinrich dabei begegnet ist, „war friedlich und wohlhabend. Die Bevölkerung ist gewachsen, die Preise sind nach oben gegangen. Das kippt dann um 1600, und die große Katastrophe kommt schon bald mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges.“

Doch auch dazwischen gab es temporäre Katastrophen, die die Bevölkerung schwer trafen, wie Heinrich im umfangreichen Vorwort darstellt, in der er die erfasst Daten erhellend erläutert. Zwei Zäsuren ragen heraus: Zum einen der „Große Hagel“ im Jahr 1562, der im weiten Umfeld die Früchte von Acker- und Weinbau vernichtet hatte. Noch gravierender muss die „Große Teuerung“ gewesen sein, die von 1569 bis 1574 dauert: die Folge von sieben Jahren mit kalten Wintern, nassen Sommern, Stürmen und Hochwasser-Katastrophen, die zu einer Missernte nach der anderen führt. Schließlich musste die Obrigkeit auswärts Roggengetreide kaufen und selbst Brot backen lassen, um den schlimmsten Hunger zu mildern. Und danach steigen die Verkaufsaktivitäten sprunghaft an. Auch wenn die Preise im Keller sind.

Wirtschaftshistorie und Sozialgeschichte

Für wen das Buch interessant sein könnte? „Für Forscher und für historisch interessierte Laien, die eine gewisse sprachliche Mühe nicht scheuen, die Kanzleideutsch darstellt, auch wenn es, wie in diesem Fall, relativ modern klingt.“ Spannend sei das Buch vor allem für Leser, die an Wirtschaftsgeschichte interessiert seien. „Und für Genealogen. Denn über die diversen Erbengemeinschaften kann man auch Familiengeschichten aufdröseln.“ Und auf diese Weise schlägt Wirtschaftshistorie in Sozialgeschichte um, wozu Jörg Heinrich abschließend feststellt: „Man bekommt einen Einblick ins Alltagsleben. Wer mit wem, wie lange, wie oft oder wohin das gegangen ist. Wenn man es zu lesen versteht, ist das so spannend wie ein Roman.“

Die Abschrift des Kaufbuchs kann über Pro Alt-Cannstatt, www.proaltcannstatt.de, oder im Stadtmuseum Bad Cannstatt, Marktstraße 71/1, zum Preis von 35 Euro erworben werden.