Ursprünglich ist die Bibliothek als krönender Schlussstein im Europaviertel vorgesehen gewesen. Nun eröffnet sie mitten in einem Baufeld.

Stuttgart - Wenn der wichtigste Handlungsort eines Romans im neuen Europaviertel liegen würde, könnte das Buch wohl nur eine spröde Liebesgeschichte erzählen: Unmittelbar neben der neuen Stadtbibliothek öffnet sich ein öder Tunnelmund, in den noch lange keine Stadtbahn fahren wird. Baugitter grenzen eine Brache von der nächsten ab, Metallteile und Platten liegen im Gestrüpp. Vor Containern stehen Bauarbeiter im kühlen Herbstwind und rauchen. Wenn es nach den ursprünglichen Plänen gegangen wäre, würde schon heute rund um die neue Stadtbibliothek am Mailänder Platz das Leben toben, Einkäufer flanieren, Anwohner die Tür zu ihren Wohnungen aufschließen, Pendler auf ihre Stadtbahn warten.

 

Doch weil bei Stuttgart 21 lange keine Weichen gestellt wurden, ist die neue Stuttgarter Bibliothek nun vor allen anderen Bauten fertig geworden. Am Freitag wird sie eingeweiht, besonders der Oberbürgermeister fiebert dem 21. Oktober entgegen. Für Wolfgang Schuster, der in den neunziger Jahren einige Zeit lang als Stuttgarts Kulturbürgermeister tätig war, ist dieser Bücherwürfel sein zweites Lieblingsprojekt nach dem Kunstmuseum am Schlossplatz. Der OB spricht dabei gerne von Leuchttürmen - vor allem, wenn es um das Haus im Europaviertel geht. Doch sein Leuchtturm steht vorerst noch einsam im Matsch.

Wie auch immer die Volksabstimmung am 27. November ausgehen mag, was immer auch aus Stuttgart 21 werden wird - der Oberbürgermeister und die Mehrheit im Gemeinderat sehen hinter dem Hauptbahnhof, auf dem ehemaligen Güterbahnhof unterhalb der Heilbronner Straße, aber auch dort, wo heute noch die Gleise liegen und die Züge fahren, beste Chancen für den Städtebau: "Dass die vor hundert Jahren verlegten Gleise die Innenstadt durchtrennen, das muss endlich überwunden werden", so der Tenor. Sowohl der OB als auch das Stadtparlament wollen jetzt weitere alte Fehler vermeiden: Das massive Stammhaus der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) gilt in der Kommunalpolitik längst als Sündenfall, der sich nicht wiederholen darf.

Gleichwohl: die selbstbewussten Grünen kreiden dem Stadtoberhaupt bereits den nächsten Sündenfall an. Sie sehen in Wolfgang Schuster einen Wiederholungstäter: Das geplante Einkaufszentrum der ECE mit der Strabag und der Bayerischen Hausbau, das den Namen "Milaneo" trägt, ist ihnen ebenfalls zu groß geraten, vor allem die Tiefgaragen mit den mehr als 1600 Stellplätzen. Und sie kritisieren, dass der Rathauschef die Verträge mit dem Investor unterzeichnet hat, ohne den Rat noch einmal nach dessen Plazet zu fragen.

Der Oberbürgermeister kontert: "Der Investor pochte auf sein Baurecht - die Stadt hätte 30 Millionen Euro Schadenersatz riskiert." In Wolfgang Schusters Umgebung glaubt man, noch einen Grund dafür zu kennen, dass er grünes Licht gegeben hat für das 500-Millionen-Euro-Projekt mit Läden, Büros, einem Hotel und mehr als 400 Wohnungen an der Wolframstraße: "Der OB wollte verhindern, dass die neue Bibliothek allzu lange alleine steht auf weiter Flur", sagt einer, der nicht öffentlich genannt sein mag. Baubeginn soll im nächsten Frühjahr sein.

"Pariser Höfe" gehen ihrer Fertigstellung entgegen

Mittlerweile zeichnet sich allerdings ab, dass die Aufsiedlung auf dem sogenannten Areal A1 rascher vonstattengeht, als es der Oberbürgermeister befürchtet hat. Noch vor Weihnachten wird der Sparkassenverband Baden-Württemberg, nur einen Steinwurf von der Stadtbücherei entfernt, mit dem Bau seiner neuen Akademie beginnen. Jahr für Jahr sollen dort - vom März 2014 an - Tausende junger Leute aus dem Bankenbereich geschult werden. Davon erhofft man sich einen starken Impuls für die Belebung des gesamten Quartiers.

Ebenfalls nicht weit entfernt von der Bibliothek liegt der Pariser Platz, wo sich derzeit etliche Kräne drehen und der Rohbau Gestalt annimmt. Die "Pariser Höfe" gehen ihrer Fertigstellung entgegen - mehr als 240 Wohnungen sowie ein Büroflügel sollen im nächsten Frühjahr eingeweiht werden. Dann ziehen tatsächlich die ersten Bewohner ins Europaviertel. Die spannende Frage lautet: Wer hat den Mut und das Vertrauen in den neuen Standort, um sich dort als "Pionier" anzusiedeln?

Der Blick auf die Nutzung des Viertels hat sich verändert. Der Oberbürgermeister und der Gemeinderat, denen das Baurecht in der Stadt obliegt, sind umgeschwenkt: Weniger Büros, mehr Wohnungen im Europaviertel, so lautet nun ihre kommunalpolitische Maxime. Deshalb wünscht sich der OB auch entlang der Heilbronner Straße, wo es für die Grundstücke noch keine Investoren gibt, Büros zur Straße hin - aber Wohnungen, die ins Quartier zeigen.

Ein Sorgenkind des Viertels bleibt weiterhin die Ecke Heilbronner/Wolframstraße. Dort haben Investoren von der Bahn ein Grundstück gekauft, auf dem sie entweder ein Hotel oder einen Wohnturm errichten wollten. Wegen der Finanzkrise liegt das Projekt jedoch auf Eis. Ob die Aufsiedlung an anderer Stelle den Investor beflügeln wird, bleibt abzuwarten.

Ebenso offen ist die Frage, was aus dem Rosensteinquartier wird, wo die Ratsmehrheit und auch der Oberbürgermeister von 2020 an einen neuen Stadtteil mit zahlreichen Wohnungen, Kindergärten, Schulen, einer Philharmonie und einem neuen Linden-Museum etablieren möchten. Am 27. November, bei der Volksabstimmung über Stuttgart 21, werden dazu die Weichen gestellt - und beim Städtebau wird ein neues Kapitel geschrieben.

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Die nächsten Bauprojekte folgen

Spatenstich: In der Woche vor Weihnachten treffen sich die Honoratioren schon wieder im Europaviertel. Dann gibt es den ersten Spatenstich für die neue Sparkassenakademie. Die Architekten Jörg Mieslinger und Wolfram Wöhr haben geplant, der Sparkassenverband Baden-Württemberg baut. In der neuen Akademie, bis jetzt in Rastatt und Neuhausen/Filder ansässig, sollen vom 1. März 2014 an jedes Jahr viele Tausend junge Bankangestellte geschult werden. Die Akademie bekommt deshalb auch 160 Apartments sowie einen Kongressbereich mit mehreren Sälen.

Pariser Höfe: Die nächste Einweihung nach der Eröffnung der Bibliothek am 21. Oktober ist nicht weit: Im ersten Quartal 2012 werden die "Pariser Höfe" eröffnet - 240 Mietwohnungen und ein Bürogebäude mit sechs Stockwerken, dazu eine Tiefgarage mit 300Plätzen. Der Neubau, den die Architekten Maier und Neuberger geplant haben, liegt am Pariser Platz, von der Bibliothek aus gesehen ein Stück weit in Richtung Hauptbahnhof.