Jeder hat schon davon gehört, kaum einer hat es gelesen. Marcel Prousts Hauptwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gilt als literarische Herausforderung. Die Leselust-Mannschaft der Esslinger Stadtbücherei nimmt sie an.

Esslingen - Jedem Literaturfreund ist der Titel geläufig. „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist das Hauptwerk des französischen Schriftstellers Marcel Proust (1871-1922). Nur wenige können allerdings von sich behaupten, dem Autor auf dieser Suche jemals gefolgt zu sein. Schwergewichtige Weltliteratur, die keiner liest – das ist das Etikett, das unsichtbar auf dem 5000-Seiten-Werk klebt. Susanne Lüdtke, die Moderatorin der Reihe „Leselust“, will gegen dieses Vorurteil angehen.

 

Im sommerlichen Leselust-Literaturgespräch in der Stadtbücherei Esslingen heftet sie sich gemeinsam mit den Teilnehmern an vier Vormittagen an die Fersen des Autors. Die Literaturwissenschaftlerin macht keinen Hehl daraus: Wer sich auf Prousts Spuren auf die Suche nach der verlorenen Zeit macht, muss viel Zeit mitbringen. Proust habe sein Werk zwar im Bett geschrieben, als Bettlektüre eigne es sich jedoch nicht. „Man muss sich konzentriert auf diese Literatur der Entschleunigung einlassen“, sagt sie. Wer die Scheu vor der Seitenzahl und dem nicht immer leicht zu durchschauenden Erzählgeflecht überwindet, wird belohnt. „Proust presst die großen Menschheitsthemen Liebe, Natur, Wahrheit und Einsamkeit nicht in ein handlungsstarkes Gerüst, sondern nähert sich ihnen über Assoziationsketten, Beobachtung und Reflexion“, sagt Susanne Lüdtke.

Absage an die Schnelllebigkeit

Der minutiös geschilderte Prozess des rückschauenden Sich-Erinnerns ist eine Absage an die Schnelllebigkeit der Zeit und zugleich ein Abtauchen in eine Welt voller Sinnlichkeit. „Proust war ein Genussmensch“, sagt Susanne Lüdtke. Über seine in Worte gefassten Erinnerungen an Stoffe, Gerüche, Essen und Musik gewinnt auch der Leser einen Zugang zu dieser Welt.

Zur Gefühlsebene kommt die Wissensebene. „Proust spielt mit vielfältigen Bezügen zu Literatur, Musik und sogar Architektur“, sagt die Wissenschaftlerin, die ihr Publikum zum zweiten Mal zu einem Gipfelsturm der Leselust mitnimmt. Im vergangenen Jahr hat James Joyce mit seinem Roman „Ulysses“ als Steighilfe gedient. Die Premierenseilschaft hatte damals immerhin 40 Teilnehmer gezählt.

Aber auch die Mühen der Ebene haben ihre treuen Anhänger. Die zehn über das Jahr verteilten regulären Leselust-Termine erfreuen sich großer Beliebtheit. Renate Luxemburger, die Veranstaltungschefin der Stadtbücherei, hatte vor fünf Jahren den Anstoß zu der Reihe gegeben – anknüpfend an die Tradition des Literatursalons des 19. Jahrhunderts.

„Wir haben festgestellt, dass die Entwicklung immer mehr zum passiven Konsum von Literaturlesungen geht. Dem wollten wir eine Form gegenüberstellen, bei der über Bücher geredet und diskutiert wird und bei der die Teilnehmer das Programm mitgestalten können“, sagt sie – wohl wissend, dass der Erfolg der „Leselust“ ganz eng mit der Person, der Moderatorin Susanne Lüdtke, verknüpft ist.

Voranmeldungen noch möglich

Die Annäherung an Marcel Proust geschieht an den vier ersten Dienstagen im August, jeweils von 10 bis 14 Uhr im Kutschersaal der Stadtbücherei Esslingen. Voranmeldungen sind unter der Telefonnummer 0711/35 12 23 37 möglich.


Geführt wird die Suche nach der verlorenen Zeit von Susanne Lüdtke. Die 67 Jahre alte promovierte Literatur- und Kunstwissenschaftlerin hat nach ihrem Studium in Wien und Berlin für den SWR über Kultur berichtet. Von 1990 bis 2000 war sie die erste Frauenbeauftragte im Stuttgarter Rathaus. Bis zum Jahr 2010 leitete sie die Galerie Im Heppächer in Esslingen. Auf Sylt geboren, lebt Susanne Lüdtke seit 1984 in der Neckarstadt. Seit fünf Jahren leitet sie die Bücherei-Reihe „Leselust“.