Viele Metropolen platzen aus allen Nähten – und wachsen weiter. Manch kleinere Städte dagegen kämpfen mit sinkenden Einwohnerzahlen. Was kann man tun?

Stuttgart - Die Prognosen der Stadtforscher sind eindeutig: Die großen deutschen Städte werden auch in Zukunft weiter wachsen, was sie schon heute spürbar an ihre Grenzen bringt: Immobilienpreise schnellen in die Höhe, der Berufsverkehr kollabiert regelmäßig. Wie kriegt man immer mehr Menschen in der Großstadt der Zukunft unter? „Man kann in den Grenzen der Stadt nicht unendlich nachverdichten“, warnt Tim Freytag, Professor für Humangeographie an der Uni Freiburg. Damit eine Stadt nicht unkontrolliert wuchert und sich um sie herum kein Flickenteppich an Neubaugebieten bildet, muss eine Region als eine Einheit denken und handeln. Das scheitert in Deutschland allerdings oft am politischen Zuschnitt der Räume. „Man denkt nicht als Region, sondern als Kommune“, beobachtet Freytag. Zentral für die Zukunft sei deshalb, dass andere gesellschaftliche Akteure Regionen mitgestalten: Unternehmen beispielsweise oder Bürgerinitiativen, „für die die Welt nicht an der Stadtgrenze aufhört.“

 

Je attraktiver städtische Räume werden, umso teurer werden sie auch. „Es ist eine Herausforderung, diesen Prozess sozialverträglich zu gestalten, damit niemand rausgedrängt wird“, sagt Freytag. Hier muss die Stadtplanung die ökonomische Steuerung relativieren, die sich allein auf Grundlage von Angebot und Nachfrage ergibt. Dazu kommt, dass viele Städte ihre Wohnungsbaugesellschaften verkauft haben, und private Investoren auf hochpreisige Wohnungen setzen. „Der soziale Wohnungsbau muss von Bund und Ländern noch viel stärker gefördert werden“, fordert Rainer Danielzyk von der Akademie für Raumforschung und Landesplanung in Hannover. Zudem gebe es neue Ansätze der Städte, die beispielsweise Investoren auferlegen, bei jedem Neubauprojekt auch einen bestimmten Anteil an Sozialwohnungen zu bauen.

Großer Nutzungsdruck

Aber nicht nur der teure Wohnraum ist ein Problem wachsender Städte: „Auf den innerstädtischen Räumen lastet ein großer Nutzungsdruck“, sagt Tim Freytag. Zu den Bewohnern kommen Touristen und Menschen, die in den Städten arbeiten. Die Folge: nicht nur die Immobilienpreise steigen, auch das alltägliche Leben wird teurer. Die Einheimischen meiden die Innenstadt, weil der Kaffee in der Fußgängerzone so viel kostet wie anderswo ein ganzes Mittagessen. Diese Nutzungskonflikte zu lösen, sieht Freytag als eine der Hauptherausforderungen für die wachsenden Metropolen. Er prognostiziert die „multilokale Gesellschaft“: Wir arbeiten und leben zwar nicht mehr unbedingt getrennt, nutzen aber verschiedene Arbeits- und Wohnorte. Wir wohnen für bestimmte Arbeitsphasen in einer Stadt, für andere in einer anderen Stadt und teilen uns die Wohnungen wie eine WG auf Zeit mit anderen – und am Wochenende kehren wir heim zur Familie.

Aber es gibt auch die andere Seite der Medaille. Während die Infrastrukturen der großen Metropolen dem Ansturm nicht gewachsen sind, können die schrumpfenden Städte ihre Infrastruktur kaum aufrecht erhalten. „Das Schrumpfen hinterlässt oft unwirtliche Situationen“, sagt Claus Wiegandt, Professor für Stadt- und Regionalforschung an der Uni Bonn. Irgendwann werden die ersten Buslinien eingestellt, die sich nicht mehr lohnen, Geschäfte schließen, Unternehmen wandern ab. Je mehr Ruinen und Baulücken vorhanden sind, umso unattraktiver wird eine Stadt zudem.

Polarisierung als wachsende Gefahr

Diese Polarisierung zwischen wachsenden und schrumpfenden Städten sei eine Gefahr, so Wiegandt: „Wenn nur die Bevölkerung zurückbleibt, die nicht so mobil ist, ist das sozial ungünstig.“ Das gelte nicht nur für die neuen Bundesländer, auch im Westen gibt es inzwischen genügend Beispiele. So geht in Nordrhein-Westfalen die Schere immer weiter auseinander: Auf der einen Seite stehen die wachsenden Metropolen wie Bonn, Köln, Düsseldorf, Münster und Aachen, auf der anderen Seite ihre schrumpfenden Nachbarn wie Wuppertal, Hagen, Mönchengladbach und Gelsenkirchen. Laut einer Prognose des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung verschärft sich diese Tendenz bundesweit bis 2030 weiter.

Auch im Interesse der wachsenden Städte, die aus allen Nähten platzen, müssen schrumpfende Gemeinden noch stärker als bisher unterstützt werden, meint Wiegandt. Beispielsweise brauchten sie viel dringender ein schnelles Internet als die großen Metropolen: Die wegfallende Infrastruktur wie der Einzelhandel können durch das Internet zumindest ansatzweise ersetzt werden. Auch Telearbeitsplätze hängen von einer guten Verbindung ab, ebenso wie die moderne Telemedizin, dank derer Patienten überwacht werden können, ohne dass sie ständig weite Strecken in die nächste Klinik fahren müssen.

Schnelles Internet für schrumpfende Städte

Nicht zuletzt können betroffene Städte die verbliebenen Unternehmen nur mit besten Bedingungen halten – auch dazu gehören schnelle Leitungen. Aktuell stehen die schrumpfenden Städte bei der Nutzung digitaler Möglichkeiten aber ganz hinten, wie Wiegandts Studie ergeben hat: In einem Ranking der 25 größten deutschen Gemeinden zur Digitalisierung gehörten bis auf eine Ausnahme – nämlich Wuppertal – wachsende Städte zu den Top Ten, die schrumpfenden lagen hinten.

Wer Stadt- und Regionalplaner nach Beispielen für Städte fragt, die erfolgreich mit dem Schrumpfen umgehen, bekommt immer wieder Altena genannt. Die Stadt im Märkischen Kreis in Nordrhein-Westfalen gilt als Beweis dafür, dass eine kluge Schrumpfungspolitik erfolgreich sein kann. Während das anderswo ein Tabuthema sei, habe sich Altena nie versteckt, sagt Danielzyk. Die Gemeinde hat in Folge des Untergangs der Drahtindustrie seit 1970 beinahe die Hälfte der Einwohner verloren: Heute leben knapp 18 000 Menschen dort, 1970 waren es noch 32 000. „Der Trick ist Ehrlichkeit“, glaubt Danielzyk: „Die Bürger merken doch, dass sie immer weniger werden.“ Der Altenaer Bürgermeister sei trotz rigider Schrumpfungspolitik zwei Mal in Folge wiedergewählt worden. Er habe beispielsweise Einrichtungen wie das Standesamt mit Nachbargemeinden zusammengelegt. „Außerdem darf man nicht nur sparen, sondern muss ab und zu ein Highlight setzen“, sagt der Raumplaner – beispielsweise ein gläserner Aufzug, der seit 2012 die Stadt mit der Burg verbindet.

Schrumpfen als Chance?

Nicht zuletzt kann das Schrumpfen auch eine Chance sein, findet Stadtforscher Wiegandt. „Man kann auf bestimmte Infrastrukturen verzichten.“ Gerade viele der ehemalige DDR-Städte, die für den Braunkohleabbau aus dem Boden gestampft worden seien und nun extrem unter dem Wegzug der Bevölkerung litten, könnten nun die unschönen Plattensiedlungen der 1980er Jahre am Stadtrand abreißen und die Bevölkerung im Stadtzentrum konzentrieren. Weißwasser beispielsweise, eine ehemalige Braunkohle-Hochburg an der polnischen Grenze, hat so seine Bevölkerung wieder mehr zusammengeführt. Teile der früheren Stadt sind heute Wald. Ein neues Eishockeystadion hat sich die Stadt zum Ausgleich geleistet – schließlich war Weißwasser zu DDR-Zeiten der zweitwichtigste Eishockey-Standort nach Berlin. Das stärkt das Selbstbewusstsein der Zurückgebliebenen.

Was tun, wenn die Einwohnerzahl sinkt?

Stadtumbau
Die schlimmsten Auswirkungen des Schrumpfens mindern die Programme „Stadtumbau Ost und West“ der Bundesregierung. Sie fangen das auf, was sich die Gemeinden nicht leisten können: beispielsweise einen Rückbau, der nicht in einer perforierten Stadt endet, in der sich Menschen verloren fühlen. Und in der die Infrastrukturen über verwaiste Bauflächen hinweg aufrecht erhalten werden müssen – ein teures Unterfangen. Ein organisierter Umzug der Bewohner vom Rand in die Mitte kostet aber Geld, ebenso wie der Abbruch verlassener Gebäude. Investoren lassen sie häufig einfach stehen.

Perforation
Ein bisschen Perforation kann auch gut sein: Manche Stadtforscher sehen Brachflächen und Baulücken als Chance für neue Formen der Urbanität, die Leben in der Stadt attraktiv machen. Sie warnen davor, diese gleich wieder zu schließen. In solchen Räumen in Leipzig oder Dresden entstanden beispielsweise künstlerische Aktivitäten. Vielleicht waren sie sogar der Motor für eine Entwicklung, die Stadtforscher überrascht hat: Leipzig und Dresden schrumpften nach der Wende. Nun wachsen sie wieder. Anscheinend gibt es auch weiche Faktoren, die eine Stadt attraktiv machen, die selbst Experten nur schwer abschätzen können.