Sowohl stadteinwärts wie stadtauswärts existierten in diesem urbanen Dickicht unzählige Schleichwege, Verstecke und „Unorte“, die nur wir Kinder kannten. Eine bis Anfang der sechziger Jahre übrig gebliebene Ruine genau gegenüber den Hochhäusern bot gar einen unterirdischen Tunnel in Richtung Gleisfeld, der aber mitten unter der Straße unvermittelt ein Ende fand. In den Resten des ausgebombten Häuserblocks lag noch alles mögliche Zeugs aus der Kriegszeit herum: alte Schuhe, aufgerissene Koffer, Matratzen, ausgediente Brandbomben; ja selbst Geldscheine aus der Inflationszeit fanden sich noch zwischen den herabgestürzten Backsteinen.

 

Die unter erbärmlichen Bedingungen in den Kellerverschlägen dieser Ruine hausenden „Penner“ waren unsere einzigen Mitwisser. Denn niemand sonst interessierte sich für die Welt hinter dem „Betreten verboten“-Schild. Auf dem Grundstück dieser Ruine wurde dann in der ersten Hälfte der sechziger Jahre das sogenannte und noch heute existierende „Obdachlosenasyl“ eingerichtet, gegen den Widerstand evangelischer Kirchengemeinderäte und wohl der meisten Hochhausbewohner, die um den Ruf ihres Stadtteils fürchteten.

Aus dem Hofbräustüble wurde die Bar Z

Bis heute heißt das untere Stück der Nordbahnhofstraße „Galgenbuckel“. Dort an der Einbiegung zur Friedhofstraße hatten die Obdachlosen ihre Stammkneipe: eine Hofbräustüble genannte Bretterbude, die sozial und ästhetisch mehrfach umcodiert wurde, zuletzt noch als pinkfarbene Bar Z firmierte und schließlich wegen des Großprojekts Stuttgart 21 abgerissen wurde. Dort kamen auch die ersten Gastarbeiter in ihren abgewetzten Anzügen und mit verschnürten Pappkartons vorbei, um in einem schräg gegenüber der heutigen Gedenkstätte gelegenen Wohnheim untergebracht zu werden. Wir Kinder riefen ihnen „Spaghettifresser“ entgegen, weil es uns die Älteren so vormachten.

Von Anfang an zeichneten sowohl topografische wie soziale Verwerfungen diesen in seinen weiteren Umrissen Prag genannten Stadtteil aus. Dass Lenin, der beim Internationalen Sozialistenkongress von 1907 in Stuttgart weilte, sich – während der berühmten Fahrt im verplombten Eisenbahnabteil – an das „Prag-Wirtshaus“ erinnert haben soll, mag ein Hinweis darauf sein, dass diese Gegend einmal mit anderen Augen betrachtet wurde.

Da ich selbst in einem dieser Hochhäuser aufgewachsen bin, erinnere ich mich nicht nur an die nächtlichen Rangiergeräusche des benachbarten Güterbahnhofs, an spitze Pfiffe und das Gerumpel der aufeinanderstoßenden Güterwaggons, an die zu allen Tages- und Nachtzeiten das Haus betretenden oder verlassenden Eisenbahner, an die blauen Uniformen der Schaffner oder an die schwarze Kluft der Rangierarbeiter, sondern vor allem an wilde Spaziergänge über den Pragfriedhof, am Krematorium vorbei ins Chaos der von Schrebergärten umsäumten Schrottplätze. Eine Welt der ausgelagerten, der ausrangierten und deshalb für Kinder besonders anziehenden Dinge. Auf den heute in eine Gedenkstätte der Judendeportationen integrierten Abstellgleisen standen lange Zeit mit Sand gefüllte Lokomotiven, auf deren Fahrständen wir „Reise um die Welt“ spielten, ohne jede Ahnung natürlich, was da mal war. Die von uns „Panzerknackergegend“ genannte Zone war abenteuerlich genug, um einen Abenteuerspielplatz überflüssig zu machen.

Die Kinder und die Obdachlosen kannten sich hier aus

Sowohl stadteinwärts wie stadtauswärts existierten in diesem urbanen Dickicht unzählige Schleichwege, Verstecke und „Unorte“, die nur wir Kinder kannten. Eine bis Anfang der sechziger Jahre übrig gebliebene Ruine genau gegenüber den Hochhäusern bot gar einen unterirdischen Tunnel in Richtung Gleisfeld, der aber mitten unter der Straße unvermittelt ein Ende fand. In den Resten des ausgebombten Häuserblocks lag noch alles mögliche Zeugs aus der Kriegszeit herum: alte Schuhe, aufgerissene Koffer, Matratzen, ausgediente Brandbomben; ja selbst Geldscheine aus der Inflationszeit fanden sich noch zwischen den herabgestürzten Backsteinen.

Die unter erbärmlichen Bedingungen in den Kellerverschlägen dieser Ruine hausenden „Penner“ waren unsere einzigen Mitwisser. Denn niemand sonst interessierte sich für die Welt hinter dem „Betreten verboten“-Schild. Auf dem Grundstück dieser Ruine wurde dann in der ersten Hälfte der sechziger Jahre das sogenannte und noch heute existierende „Obdachlosenasyl“ eingerichtet, gegen den Widerstand evangelischer Kirchengemeinderäte und wohl der meisten Hochhausbewohner, die um den Ruf ihres Stadtteils fürchteten.

Aus dem Hofbräustüble wurde die Bar Z

Bis heute heißt das untere Stück der Nordbahnhofstraße „Galgenbuckel“. Dort an der Einbiegung zur Friedhofstraße hatten die Obdachlosen ihre Stammkneipe: eine Hofbräustüble genannte Bretterbude, die sozial und ästhetisch mehrfach umcodiert wurde, zuletzt noch als pinkfarbene Bar Z firmierte und schließlich wegen des Großprojekts Stuttgart 21 abgerissen wurde. Dort kamen auch die ersten Gastarbeiter in ihren abgewetzten Anzügen und mit verschnürten Pappkartons vorbei, um in einem schräg gegenüber der heutigen Gedenkstätte gelegenen Wohnheim untergebracht zu werden. Wir Kinder riefen ihnen „Spaghettifresser“ entgegen, weil es uns die Älteren so vormachten.

Von Anfang an zeichneten sowohl topografische wie soziale Verwerfungen diesen in seinen weiteren Umrissen Prag genannten Stadtteil aus. Dass Lenin, der beim Internationalen Sozialistenkongress von 1907 in Stuttgart weilte, sich – während der berühmten Fahrt im verplombten Eisenbahnabteil – an das „Prag-Wirtshaus“ erinnert haben soll, mag ein Hinweis darauf sein, dass diese Gegend einmal mit anderen Augen betrachtet wurde.

Zweckentfremdung von Modelleisenbahn-Zubehör

Wiewohl mein Vater der einzige Nichteisenbahner im Haus war, besaß er doch als einer der wenigen eine Modelleisenbahn, die wegen Platzmangels allerdings nur zu Weihnachten aufgebaut werden konnte. Während diese Anlagen anfangs noch eine heile Bergwelt vorspiegelten, dominierten auf ihr allmählich die Katastropheninszenierungen: entgleisende und vom Bahndamm herunterstürzende Züge, die von meinem Vater fotografisch festgehalten wurden, bisweilen senkrecht von oben; möglicherweise eine Reminiszenz an seine damals noch gar nicht so lange zurückliegende Funktion als Zerstörer und Aufklärer bei der Luftwaffe.

Aus unerfindlichen Gründen wollte er die Eisenbahn jedoch Anfang der sechziger Jahre nicht mehr aufbauen und betrachtete sie nun allabendlich im Abstellraum der Dreizimmerwohnung in ihrem verpackten Zustand wie eine Reliquie. Wir Kinder fanden das natürlich blöd. Doch eines Tages kam mein im neunten Stockwerk bahnseits wohnender Schulfreund auf eine geniale Idee, wie man sie vielleicht nur einmal im Leben hat: Warum erst eine Modelleisenbahnanlage aufbauen, wenn man eine solche praktisch direkt vor der Haustür hat! Man müsse nur den richtigen Abstand dazu gewinnen. Wir holten uns also heimlich einige Trafos und Weichenstellpulte aus dem Depot meines Vaters, nagelten alles auf ein Brett und stellten uns auf den bereits erwähnten Balkon, mit freiem Blick auf eine sich mehrfach durchkreuzende und untertunnelnde Gleislandschaft, deren Faszination nicht wenig damit zu tun hat, dass sie nichts beschönigt.

Was suchen die jungen Stuttgarter in Berlin?

Obwohl der tief ins Stadtinnere eindringende Gleiskörper seine eigenen Schönheiten aufweisen mag, ist er doch in erster Linie unverstellter Ausdruck technischer Raumbeherrschung, wie ihn nur das Industriezeitalter hervorbringen konnte. Man kann dieses Gleis- und Tunnelgebirge samt den an seinen Rändern auftretenden Bruchzonen durchaus als hässlich empfinden; die Frage wäre nur, warum etwas ungeschminkt Hässliches so oft attraktiver scheint als alles Zugedeckelte und Geglättete und was das mit Urbanität zu tun hat.

Ziehen nicht deshalb so viele jüngere Schwaben nach Berlin, weil sie dort etwas zu finden hoffen, was noch so heimelige Weindörfer nicht befriedigen können: den Geschmack am Disharmonischen und – so pervers es klingt – an den historischen Abgründen dieser Stadt? Oder warum spielt sich ein Großteil der hiesigen Clubszene gerade an einer der hässlichsten aller Stuttgarter Verkehrsadern, der Theodor-Heuss-Straße, ab? Könnte es sein, dass man sich auf diese Weise – wie ironisch auch immer – von den Fußgängerzonenidyllen der Eltern absetzen will? Und ist andererseits das unter Subversionsverdacht stehende Wagenhallengelände nicht längst zu einem Museum der Subkultur geworden, einer Location für „Tatort“-Regisseure und alle, die sich in einer langen Museumsnacht mal „das andere Stuttgart“ reinziehen wollen?

Allmachtsfantasien, die sich beim Blick von oben entwickeln

Was den Puls oder den Charme einer Stadt ausmacht, ist schwer zu beschreiben, noch schwerer ist, es zu planen. Möglicherweise hängt alles davon ab, wie viele Widersprüche in einer Stadt aufeinandertreffen und als etwas Produktives begriffen werden. Und da hat es eine reiche Stadt wie Stuttgart natürlich schwer, dem Slogan „arm, aber sexy“ etwas Zündendes entgegenzusetzen. Eine Stadt, die sich von ihren Höhen und Halbhöhen aus beständig selber betrachten kann, neigt sozusagen von Natur aus dazu, ihre Kessellage überzuinterpretieren, sie für etwas Gottgegebenes und Einhaltgebietendes zu halten. Die Angst vor Veränderung ist dabei jedoch nicht a priori größer als die Chance, das Privileg relativer Saturiertheit zu nutzen und den Kessel mal endlich zum Dampfen zu bringen. Denn nicht in Berlin sind Massen auf die Straßen gegangen, um sich gegen staatliche Bevormundung zur Wehr zu setzen, sondern in Stuttgart.

Zurück zu den Hochhäusern: in kurzer Zeit gelang es uns, den Bahnverkehr da unten als ein von uns da oben bewirktes Geschehen zu empfinden. Das Gefühl, mit der Hand am Trafo den tatsächlichen Geschehnissen nicht etwa nur zu folgen, sondern ihnen voraus zu sein und sie zu lenken, bedurfte lediglich einer kleinen Verschiebung der Selbstwahrnehmung. Die Verwechslung von Ursache und Wirkung ist einfacher, als man denkt, sie lässt sich üben. Pathologisch wird die Sache nur dann, wenn man aus diesem Spiel nicht mehr aussteigen kann und tatsächlich glaubt, die Wirklichkeit sei eine Modelleisenbahn.

Störfläche für städtebauliche Visionen

Allmachtsfantasien entstehen bekanntlich umso leichter, je weiter weg man sich vom eigentlichen Geschehen befindet. Mein Vater berichtete des Öfteren, wie sich von der Flugzeugkanzel aus die Welt in „eine Art Spielzeugwelt“ verwandelt hatte, in die hineinzubomben weit weniger Überwindung kostete, als etwa im Nahkampf mit dem Spaten einen feindlichen Schädel zu spalten. Der Blick von oben führt deshalb nicht selten zu berauschenden und gleichzeitig abstrakten Gefühlen. Manchmal genügt ein einziger Hubschrauberflug, um etwas an sich Funktionierendes plötzlich als Störfläche für städtebauliche Visionen zu empfinden. Sich auf Teufel komm raus und koste es, was es wolle, ein Denkmal zu setzen wäre das eine; ein Gespür für das Spezifische eines Ortes das andere.

Blickt man von einem der Hochhäuser ins Innere dieses Gevierts, erkennt man einen pavillonartigen Gebäudekomplex, der zur Hälfte aus Garagen und zur anderen Hälfte aus einer Waschküche samt Heißmangelstube besteht. Plus/minus 50 Meter liegt dieser Waschküchenbau ziemlich genau dort, wo der Jude Joseph Süß Oppenheimer, der Finanzberater und Geldbeschaffer des katholischen Herzogs Karl Alexander von Württemberg, vor 275 Jahren, am 4. Februar 1738, erwürgt wurde und in einem rot gestrichenen Käfig noch sechs Jahre lang zur Abschreckung aufgehängt war, bis dann auf Anordnung des Herzogs Carl Eugen seine wohl noch in den Kleidern hängenden Knochen am Fuße des Galgens verscharrt wurden. Der Hinrichtung ging ein langwieriger und perfider Schauprozess voran, mit dem sich die protestantischen Landstände nach dem plötzlichen Tod des ungeliebten Herzogs für die Beschneidung ihrer Privilegien rächen wollten. Zwölftausend Schaulustige sollen teils auf eigens errichteten Tribünen dem grausigen Schauspiel beigewohnt haben.Wer war „Jud Süß“ wirklich? Ein gerissener Geldeintreiber, ein Verführer, der – wie seine Henker meinten – den Herzog nur benutzte, um sich selber zu bereichern; oder war er im Gegenteil ein Freidenker, ein Kosmopolit, ein unerkannter Vorläufer der Moderne? Oder auf verwickelte Weise beides zugleich? Bis heute ist der historische Süß Oppenheimer bis zur Unkenntlichkeit überwuchert von den schon zu seinen Lebzeiten in denunziatorischen Flugblättern verbreiteten, später dann in Literatur und Film sowohl ins Negative wie ins Positive fortentwickelten Bildern.

Anknüpfungspunkt Heißmangelstube

Dass dieser Ort, an dem außer „Jud Süß“ seit 1597 noch mindestens sechs weitere „Goldmacher“ aufgehängt wurden, den Stuttgartern nahezu unbekannt ist, gehört zu den Peinlichkeiten dieser Stadt. Auch in der Heißmangelstube der Waschküche, diesem halbintimen Ort, wurde über alles Mögliche geredet, über Sissi-Filme, Familie, Dauerwellen und Gastarbeiter, nie aber über so was. Das war einfach vergessen. Man kannte den Galgenbuckel, nicht jedoch die mit seinem Zielort verbundenen Ereignisse.

Wo einst der Galgen stand

Noch heute hängt in der Heißmangelstube die originale Waschküchenordnung aus dem Jahre 1956 an der Wand. Der Ort wirkt auch sonst so, als hätte sich hier seit über einem halben Jahrhundert nichts mehr verändert. Es wird, wenn auch spärlicher, immer noch darin gewaschen, heißgemangelt und über dieses und jenes gesprochen. Dieser Ort eignete sich wie kein anderer dazu, den gerissenen Faden wieder aufzunehmen; ihn mit einer Geschichte zu versorgen, die trotz ihrer Unappetitlichkeiten identitätsstiftend für den ganzen Stadtteil wirken könnte. Kurz: man sollte genau diese Waschküche, ohne ihren Betrieb zu stören, in einen Gedenkort verwandeln; in kleinen Schritten und außerhalb der üblichen Gedenkroutine.

Wenn Wolfgang Frey, der kürzlich verstorbene Erbauer der gigantischen und hypergenauen Modelleisenbahnanlage, in der das Stuttgart des Jahres 1999 im Maßstab 1:160 festgehalten wird, in einem auf Youtube unter „Stuttgarts Bahnschätze“ zugänglichen Filminterview sich genau dort hinstellte, wo vormals der Galgen stand, also hinter die Hochhäuser, so mag dies ein bloßer Zufall sein. Denn die Anlage hat dort ein zur technischen Versorgung bestimmtes Loch. Möglich wäre aber auch, dass dieses Loch das geheime Zentrum dieser durch und durch wirklichkeitshaltigen Anlage bildet.

Harry Walter und „Jud Süß“

Der Stuttgarter Autor Harry Walter ist Mitbegründer der künstlerischen Produktionsgemeinschaft ABR-Stuttgart und des Begleitbüros SOUP (Stuttgarter Observatorium urbaner Phänomene). Seit Langem beschäftigt er sich mit der Frage, wie sich lokale Geschichten mit globalen Themen verknüpfen lassen. Walters neues, zusammen mit Freunden anvisiertes Projekt „Allmähliche Verwandlung einer Waschküche in einen (Ge-)Denkort“ soll Künstlern, Schriftstellern und anderen Interessierten die Möglichkeit bieten, diesen Ort in Form „minimalinvasiver Eingriffe“ mit aktueller Bedeutung aufzuladen. Es steht im Zusammenhang mit einigen anderen, vom Süß-Oppenheimer-Biografen Hellmut G. Haasis angeregten Aktivitäten zum Gedenken an den Justizmord vor 275 Jahren.