Bei zwei Führungen geht es auch um die Geschichte eines Missverständnisses. Denn, obwohl es sich ins kollektive Gedächtnis der Stuttgarter eingebrannt hat, zeigt der Erbsenbrunnen in Bad Cannstatt kein Abbild des jungen Richard von Weizsäcker.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Hartnäckig hält sich in Stuttgart die Annahme, der verstorbene Richard von Weizsäcker habe als Kind Modell gestanden für den Knaben, der noch heute in Bad Cannstatt auf dem Erbsenbrunnen in der Marktstraße zu sehen ist. Weizsäckers Onkel Fritz von Graevenitz hatte den Brunnen 1929 geschaffen, und der kleine Richard war tatsächlich oft bei ihm auf der Solitude zu Besuch.

 

Argumente sind nicht zu widerlegen

Diese Ansicht, die fast schon im kollektiven Gedächtnis der Stadt verankert ist, stimmt aber nicht – dabei hat der ehemalige Bundespräsident selbst zu deren Verbreitung beigetragen. Denn 1990 sagte er, als er in Stuttgart die Ehrenbürgerwürde erhielt, man müsse nun wirklich keine Büste mehr von ihm anfertigen, was die Stadt vorgehabt hatte. Eine Abbildung bestehe bereits, „und zwar schöner als es heute werden könnte.“ Gemeint sei der Erbsenbrunnen, fuhr Richard von Weizsäcker fort: Die Figur „zeigt mich mit einem richtigen ‚Moschtkopf’, also ganz anders als mir bei der heutigen Ehrung zumute ist.“

Schon vor zwölf Jahren hatte die Tochter des Künstlers von Graevenitz, Irmgard Bosch, diese Version aber in Zweifel gezogen. Und ihre Argumente waren und sind nicht zu widerlegen. Ihr Vater habe immer eng am Modell gearbeitet, sagte sie; im Jahr 1929 war Richard von Weizsäcker aber bereits neun Jahre alt und hatte von Alter und Statur her nichts mehr mit dem Jungen auf dem Erbsenbrunnen gemeinsam.

Der Faunbrunnen existiert nicht mehr

Vor allem aber existiert in den Familienalben Boschs ein Foto, das den splitternackten kleinen Richard als Modell zeigt. Er sitzt auf einer Kugel (beim Erbsenbrunnen steht der Knabe), er hat einen Zweig im Mund, der wohl ein Ersatz für eine Flöte sein sollte. Und mit Zuckerwasser hat jemand in seine Haare zwei kleine Hörner gedreht. Julia Müller, die Leiterin des Graevenitz-Museums auf der Solitude, löst das Rätsel auf: Fritz von Graevenitz habe 1927 ebenfalls für Stuttgart einen Brunnen mit der Figur eines Fauns gestaltet – und dieser Faun hatte genau die gleiche Pose wie Richard von Weizsäcker auf dem Foto inne. Als Irmgard Bosch ihren Cousin Richard von Weizsäcker einmal darauf angesprochen hatte, antwortete dieser, er könne sich getäuscht haben – immerhin waren mehr als 60 Jahren vergangen.

Dass viele Stuttgarter Weizsäcker noch immer mit dem Erbsenbrunnen verbinden, liegt vermutlich auch daran, dass der Faunbrunnen nicht mehr existiert. Er stand in der Innenstadt an der Ecke Büchsenstraße und Calwer Straße, wurde aber im Krieg so schwer getroffen, dass er beseitigt wurde.

Zwei Sonderführungen sind geplant

Diese Geschichte und viele weitere wird Julia Müller am Mittwoch bei zwei Sonderführungen erzählen. Schon an dem Wochenende, als der Tod von Weizsäckers bekannt geworden sei, hätten viel mehr Menschen den Weg ins Museum gefunden als sonst – nun wolle sie am Tag des offiziellen Staatsaktes mit den beiden Führungen des Alt-Bundespräsidenten gedenken. Dabei soll auch der kleine Friedhof an der Solitude besucht werden, in dem Weizsäckers Eltern und auch dessen Bruder Heinrich begraben sind. „Nur ehemaligen Bewohnern der Solitude steht dieser Friedhof zur Verfügung“, sagt Julia Müller: „Richard von Weizsäcker hat ihn für sich und seine letzte Ruhestätte nicht in Betracht gezogen.“

Der Staatsakt beginnt am Mittwoch um 11 Uhr mit einem Trauergottesdienst im Berliner Dom. Das ZDF überträgt live. Es werden 1400 Gäste erwartet. Die anschließende Beerdigung findet im Familienkreis statt; aus diesem Grund gibt das Bundesinnenministerium den Friedhof in Berlin nicht bekannt, auf dem von Weizsäcker die letzte Ruhe finden wird. Dieser dürfte in der Nähe des Wohnortes liegen.

Stuttgart blieb Weizsäckers geistige Heimat

Beide Familienzweige von Weizsäckers waren sehr eng mit Stuttgart verbunden. Richards Mutter Marianne von Graevenitz (1889-1983) war die Schwester des besagten Künstlers Fritz von Graevenitz. Und sein Vater Ernst von Weizsäcker (1882-1951) war der Sohn des letzten Ministerpräsidenten im Königreich Württemberg gewesen. Aus diesem Grund war Stuttgart für Richard von Weizsäcker immer eine geistige Heimat, auch wenn er selbst nur das erste Lebensjahr hier verbracht hat.

Die CDU-Fraktion im Gemeinderat hat nun am Freitag angeregt, in Stuttgart eine Straße nach Richard von Weizsäcker zu benennen. Die Fraktion schlägt vor, dass die Planie künftig „Richard-von-Weizsäcker-Straße“ heißen soll – schließlich sei der frühere Bundespräsident im Jahr 1920 in unmittelbarer Nähe in einer Mansarde des Neuen Schlosses geboren.