Stuttgart 21 ist 1994 geboren worden. Wo ist der Geist dieses Projekts geblieben?
Der ist in Stuttgart geblieben. Sie können es in Neu-Ulm sehen, Bahnhöfe haben nach dem Krieg etwas von ihrer früheren Qualität verloren. Bahnhöfe waren einmal wie Flughäfen, die Bahn war das Verkehrsmittel der Wahl und hat sich mit der Urbanisierung in Europa ausgebreitet. Nach dem Krieg waren Bahnhöfe stark funktionalisiert, und Heinz Dürr hat dann gesagt, wir müssen beginnen, die Zugstationen wieder zu optimieren – damit wieder aufwerten.

Die Idee, den Bahnhof tief zu legen und auf dem Schienenteppich im Tal die eingeengte Stadt zu erweitern, war am Anfang positiv besetzt. Man hat die Chancen gesehen. Davon ist heute nicht mehr allzu viel übrig.
Oh, doch. Die Impulsgeber von Stuttgart 21 – Heinz Dürr, Erwin Teufel, Matthias Wissmann, Hermann Schaufler und Manfred Rommel – haben ein Ziel formuliert. Und wenn sie den Zielbegriff betrachten, so unterlegt er ein Handlungskonzept und beschreibt die Gründe, die zum Handeln bewegen. Wenn Sie ein Unternehmen durchführen, muss aber saldiert werden, das heißt, die andere Seite des Zielbegriffs, die zunächst ausgeblendet wurde – verharmlosend Nebenwirkungen genannt – muss eine Chance haben, sich zu entfalten. Wenn sich diese andere Seite entfaltet mit dem, was man schon früh als schlecht erkannt hat, und dem, was sich im Laufe der Zeit als schlecht herausgestellt hat, dann ist das der Prozess, den wir bei Stuttgart 21 in einer sehr ausgeprägten Form erlebt haben. Man kann jedem Projekt nur wünschen, dass es sich so ausdifferenziert und sich per saldo als tragfähig erweist. Das Ergebnis wird erst dadurch realistisch besser.

Hat Sie überrascht, dass der Protest dann dermaßen massiv wurde?
Nicht wirklich. Wir machen oft die Erfahrung, dass der Protest erst anfängt, wenn die Bagger anrücken. Das hat den Vorteil, dass der, der da agiert, nicht mehr zurück kann. Und Stuttgart 21 hat ja gezeigt, welch enorme Kraft es hat, weil es über viele Jahre hinweg, trotz aller Debatten, immer weitergetragen wurde. Wissen Sie, es gibt bei Projekten ja keinen göttlichen Plan, die Nachteile werden irgendwann sichtbar – und das Saldieren ist der politische Prozess. Dass sich das so entfalten konnte bei Stuttgart 21, auch im Protest, das finde ich gut. Da steckt die Vision ja immer noch drin. Diese ist nur angereichert um das, was man notwendigerweise für eine realistische Entscheidung braucht, nämlich die Nachteile. Die wären aber auch bei jeder Alternative irgendwann zu Tage getreten.

Bei der städtebaulichen Seite von Stuttgart 21 haben viele Bürger die Landesbank und das Europaviertel vor Augen, und sie befürchten, dass alles Weitere auch so mächtig und groß wird. Verstehen Sie die Sorgen?
Erinnern sie sich an 1989? Da wurde der Wettbewerb zur SüdwestLB entschieden, so hieß die LBBW damals. Erinnern Sie sich an die Demonstrationen? Da waren gar keine! Erinnern Sie sich an Kritik in der Fachpresse? Das war keine! Die einzige kritische Stellungnahme kam von einer Mitarbeiterin der Uni Stuttgart. Solche Projekte unterliegen also immer auch dem Zeitgeist. Und es heißt ja auch nicht, dass das, was im Europaviertel begonnen wurde, sich so auf den heutigen Gleisanlagen in gleicher Weise fortsetzen wird.